Soziopolitischer Brief aus der Zukunft

Revolten in Chile Eine Reflexion aus dem neoliberalen Paradies

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Soziopolitischer Brief aus der Zukunft

Foto: Pablo Vera/AFP/Getty Images

Sehr geehrte Damen und Herren aus Deutschland,

nachdem ich von einer riesigen Demonstration in der Nähe der Militärschule kam, die von 7 Panzern, mehreren Hubschraubern und hunderten Soldaten des chilenischen Militärs unterdrückt wurde, entschied ich mich dafür, Ihnen zu schreiben. Wie Sie sicherlich wissen, finden gerade in Chile massive Proteste statt, dessen tatsächlicher Beginn in der Preiserhöhung des U-Bahntickets um 30 chilenische Pesos lag – etwa 4 Cent. Obwohl sich die Demonstrationen Anfang Oktober auf das Schwarzfahren der Schüler beschränkt hatten, sind es jetzt mehr als eine Million Menschen, die mit ihren Töpfen und Holzlöffeln auf die Straße gehen, um zu demonstrieren. Gewiss gibt es auch welche, die die Zeit ausnutzten, um Supermärkte und Tankstellen zu plündern und in Brand zu stecken, doch blieben die Meisten trotz der hegemonischen Berichterstattung der privaten Sender friedlich. In jeder Kommune, ob arm oder wohlständig – das ist das Kennzeichen dieser Demonstrationen –, befinden sich mehrere Protestpunkte, manchmal nur einige Straßen voneinander entfernt. Dabei ist aber nicht das alte Proletariat, das für seine zertretenen Rechte protestiert, auch nicht das Prekariat im strengen Sinne, sondern eine vielfältige Masse von Leuten, die außerhalb des winzig konzentrierten Teils der Bevölkerung stehen. Sie sind die Nicht-Konzentrierenden.

Von vornherein maß die Regierungsmacht – mit all ihren Organen – den Demonstrationen keine Bedeutung bei. Während der Präsident Sebastián Piñera und der Innenminister Andrés Chadwick – ehemaliger Pinochets Anhänger – die ersten Schüler-Demonstranten als einfache Verbrecher bezeichneten, behauptete der Ökonomieminister Juan Andrés Fontaine, dass, wenn die Leute für Transport weniger bezahlen wollen, sie früher aufstehen könnten. Ebenso wies die Verkehrsministerin Gloria Hutt darauf hin, dass die Preiserhöhung nicht einmal die Schüler affiziert, sondern nur die Erwachsene, sodass sie keine Berechtigung zu den Beschwerden hätten. Nach ein paar Tagen, als die Demonstrationen Massendemonstrationen wurden und dann nicht nur Schüler, sondern auch Studenten, Arbeiter, Angestellte, Familien, Rentner, etc. auf die Straßen gingen, sagte der Chef des Expertentisches Juan Enrique Coeymans, der verantwortlich ist, um über solche Preiserhöhungen nach technischen Standards zu entscheiden, noch dazu, dass, wenn die Masse keinen Protest äußert, nachdem der Brot- und der Tomatenpreis stiegen, sich jetzt nicht beschweren sollte. Alle Stimmen aus der Regierung blieben in diesem Ton. Der Gipfel des Ganzen wurde jedoch erreicht, als Piñera behauptete, dass „wir uns im Krieg gegen einen mächtigen Feind befinden“ – ganz nach der Art der Militärdiktatur vor 30 Jahren.

Aber, an wen ist dieser ganze Diskurs gerichtet? Wie kann es sein, dass aus einer geringen Preiserhöhung jetzt der Ausnahmezustand und die Ausgangssperre herrschen? Wie kommt man zum Ergebnis, dass in der „ruhigen Oase Lateinamerikas“, wie Piñera vor ein paar Wochen äußerte, vom ihm selbst der „Krieg“ erklärt wurde? Die Dialektik kann uns helfen, meine Damen und Herren, dieses Szenario besser zu begreifen. Nicht alles ist Gold, was glänzt. Hinter den schönen makroökonomischen Zahlen, die darauf verweisen, dass Chile eines der politisch und ökonomisch stabilsten Ländern dieser Region ist, verstecken sich riesige Ungleichheits- und Konzentrationsspiralen. Die Kehrseite des Bruttoinlandsprodukts pro Kopf in Chile (15.346,45 USD), das mit Uruguay (16.245,60 USD) in Lateinamerika führend ist, spricht für sich selbst: der Mindestlohn liegt bei 360 €, die Arbeitszeit entspricht 45 Wochenstunden, die Rente liegt im Durchschnitt bei 320 €, 78% der Bevölkerung ist gesetzlich versichert – mit Wartezeiten bei Spezialisten bis zu drei Jahren[1]. Die Wirtschaftskonzentration zeigt, dass 50% der Bevölkerung 2,1% des ökonomischen Reichtums besitzen, während 10% der Bevölkerung 66,5% desselben Reichtums innehaben. Chile ist das einzige Land der Welt, in dem das Wasser in privaten Händen liegt – gerade in Zeiten von Wasserknappheit und Umweltkatastrophen. Trotz der Bildungsreformen muss ein großer Teil der Bevölkerung horrende Studiengebühren zahlen, um in den öffentlichen und privaten Universitäten studieren zu können, und so weiter und so weiter…

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Nicht umsonst wird auf der Straße gesagt, dass es bei den aktuellen Revolten keineswegs um die „30 pesos [4 Cent]“ der Ticket-Preiserhöhung geht, sondern um „30 Jahre“ von rasanten Ungleichheitsspiralen in der neoliberal erpressten Demokratie. So sind zusätzlich in diesem Szenario eine Reihe verschiedener system- und marktkonformer Betrugsinstanzen zu verstehen, die in letzter Zeit bekannt wurden: die Preisabsprache der Hühnerindustrie (1.114 USD Mill.), des Toilettenpapiers (485 USD Mill.), der Apotheken (38 USD Mill.), etc.; die Steuerhinterziehung von „Zombie-Unternehmen“ (1.453 USD Mill.), oder von Piñera selbst (0,1 USD Mill.); die Korruption der Politik-Kandidaten (1.1 USD Mill.), seitens des Militärs (200 USD Mill.) und der Polizei (62 USD Mill.), usw. Diese Umstände samt der einseitigen Preiserhöhung u.a. des Stroms, des Wassers und letztlich des U-Bahntickets zeigen, wie die Lebenshaltungskosten aus Markt- und Korruptionsgründen für die Mehrheit immer größer werden, während die Löhne auf der anderen Seite gleichzeitig stagnieren. Bei diesen Demonstrationen geht es alles in allem um 30 „demokratische“ Jahre Macht-, Ökonomie-, Rechts-, und sogar Religionsmissbrauch – mit hunderten Missbrauchsfällen in der katholischen Kirche. Interessant ist außerdem nicht nur, dass sich der Bevölkerungsteil, der in solchen Arten von Missbrauch involviert ist, wiederholt, sondern auch, dass er normalerweise von der Ungleichheit der oben verwiesenen Mart-Konstellation gleichzeitig profitiert. Es ist also ein geschlossenes, vom Willen seiner Umwelt gleichgültiges Suchtsystem, was da zu sehen und heute nicht mehr zu ertragen ist.

Trotz der verheißungsvollen Fassade, die Chile in den letzten Dekaden errichtete, wackeln die Pfeiler hinter den Kulissen. Hierbei handelt es sich letztendlich um die Strukturen des von den sogenannten „Chicago-Boys“ entworfenen und von der Diktatur Pinochets erst in der Welt als Experiment durchgesetzten neoliberalen Systems. Margaret Thatcher – persönliche Freundin von Pinochet – bestand einmal darauf, dass es keine Gesellschaft gibt, sondern nur Individuen. Diese Weltanschauung, die in Chile die letzten 30 bzw. 40 Jahre ohne Gegenpol durchlebt worden ist, wurde außerdem in der von Jaime Guzmán komponierten Verfassung 1980 eingemauert und somit gegen jede künftige Widerstandskraft rechtlich geschützt. Wie Guzmán selber behauptete: „Die Verfassung muss sicherstellen, dass, wenn es den Gegnern gelingt, zu regieren, sie dazu gezwungen werden, eine Handlung zu vollziehen, die nicht so sehr von dem abweicht, was wir uns selbst wünschen“. Diese marktkonforme, stahlhart fixierte, institutionelle Ordnung ist dadurch möglich, „dass der Spielraum für Alternativen ausreichend klein ist, um die Ingangsetzung von etwas Anderem extrem schwierig zu machen“[2]. Die von Pinochet geführte rechte, neoliberale Revolution war eben auch eine Rechtsrevolution, die bis heute ihre Konsequenzen trägt. Der chilenische Neoliberalismus hat dadurch seine Immunität gesichert und die gegenwärtige Revolte – sowie die von 2006 und 2011 – erschwert.

Aber aufgepasst, meine Damen und Herren! Wenn die neoliberale Ordnung in Chile besonders tief verankert ist, aber in der ganzen Welt herrscht, dann kann wohl unsere Erfahrung für diejenigen, die diesen Weg noch weiter gehen bzw. gehen wollen, für eine Art allgemeiner Warnung aus der Zukunft gehalten werden. Und das gilt natürlich auch für Deutschland. Dabei sei nur u.a. an die Vorstellung der CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer, dass die Mieten nur sinken würden, wenn man dem Markt freien Lauf lässt, an den vom Verkehrsministerium angefeuerten Impuls zur Privatisierung der Autobahnen oder an die von der AFD unterstützten Rentenprivatisierung zu erinnern. Nicht nur die CDU und CSU, sondern auch die gleichzeitig nationalistische AFD, die FDP, die Grünen und sogar die SPD sind neoliberal angelegt – nur die Linke, die immer noch mit ihrer Vergangenheit und inneren Angelegenheiten beschäftigt ist, scheint diesem Paket zu entkommen. In Chile durchliefen wir das ganze neoliberale System schon bis zum Äußersten, dessen krisenhafte Konsequenzen heute besonders prägnant vorkommen und nur mit der militärischen Faust gehalten werden. Dass dabei Menschenrechtenverletzungen stattfinden, ist leider keine Eigentümlichkeit der Pinochets Ära mehr, sondern lässt sich ebenfalls gerade feststellen. Alles zählt, um die Privilegien zu verteidigen. Ob die aktuellen Revolten stark genug sind, um diese ganzen Machtverhältnisse aufzubrechen, wenn nicht wenigstens zu vermindern, ist noch abzuwarten.

Mit freundlichen Grüßen aus Santiago de Chile

Rafael Alvear Moreno

[1] Im ersten Semester 2018 sind laut des Gesundheitsministeriums 9.724 Patienten gestorben, während sie auf einen Spezialisten gewartet haben.

[2] Guzmán, Jaime (1979). "El Camino Político". In: Revista Realidad, N°7, S. 19.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Rafael Alvear M.

Postdoktorand in Soziologe -- Neues Buch: "Soziologie ohne Mensch? Umrisse einer soziologischen Anthropologie" (Transcript Verlag, 2020)

Rafael Alvear M.

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