Fragen über Fragen

Essay Gesundheitspolitik, Biopolitik – vieles kommt momentan in Bewegung. Aber was sagt unser Verhalten in Corona-Zeiten über unsere Gesellschaft aus?

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

„Ich habe mich daran gewöhnt, dass manche der Desinfektionsmittel abgeschraubt werden“
„Ich habe mich daran gewöhnt, dass manche der Desinfektionsmittel abgeschraubt werden“

Foto: Sean Gallup/Getty Images

Während des Einkaufs schaue ich mich um – erstaunlich voll für einen Freitag Vormittag. Eine Frau kommt mir entgegen, sie trägt einen Handschuh. Wenn ich mich weiter umschaue, fallen mir die missmutigen Blick auf. Gespräche werden gemieden, Abstand gehalten. Auch auf dem Rückweg sehe ich kaum Menschen. Feiern sind abgesagt, Reisen gecancelt, überall hört man das Wort „Corona“.

Auf meiner Arbeit sind viele aufgebracht. Ich arbeite im Krankenhaus, noch als Medizinstudentin im praktischen Jahr. Uns wurde schon angekündigt, dass im schlimmsten Fall auf uns zurückgegriffen werden müsste. Wenn ich morgens zur Arbeit gehe, habe ich mich daran gewöhnt, dass manche der Desinfektionsmittel abgeschraubt werden. Momentan rare Ware. Wenigstens wird sich an die hygienischen Bestimmungen gehalten – das erste Mal in sechs Jahren Studium. Viele schießen dabei über die Strenge, tragen einen Mundschutz, der nicht gegen Aerosole hilft. Und damit auch nicht gegen Corona. Dafür gibt es teilweise keinen Mundschutz mehr für die Isolationszimmer, in denen PatientInnen sitzen, die andere Infektionen haben. Ärgerlich finde ich.

Nur die älteren PatientInnen, die wir durch unser (panisches) Verhalten zu schützen meinen, zeigen sich unbeeindruckt. Viele sind im Krieg oder mit Erzählungen darüber aufgewachsen. Sie lassen sich nicht verunsichern, sagen sie mir. Auch der Alltag vieler PatientInnen ist nicht einfach. Es gibt genug ältere Menschen, die nach dem Tod ihrer PartnerInnen, allein leben, im besten Fall Essen auf Rädern erhalten, vereinsamen, verarmen und verwahrlost aufgefunden werden. Seien wir ehrlich – wann haben wir der älteren Generation Respekt gezollt und Wertschätzung gezeigt? Ich frage mich: Was sagt unser Verhalten in Corona-Zeiten über unsere Gesellschaft aus? Welche Folgen könnte die Pandemie haben?

Für das Einschränken der Infektionszahlen sind die Landesregierungen zu vielem bereit: Schulen, Geschäfte und Restaurants werden geschlossen. Die BürgerInnen sollen zu Hause bleiben, notfalls wird dies mit einer Ausgangssperre durchgesetzt. Große Wirtschatfseinbußen sind die Folgen.

Ein Schrumpfen der Wirtschaft fordern die Klimaaktivistis schon seit Jahrzehnten – auch beim Klimawandel werden Millionen von Menschen sterben, allein in den letzten Jahren sind vermehrt ältere Menschen aufgrund der heißen Sommer an Exsikkose gestorben. Wäre es daher nicht eine gesundheitlich-politische Überlegung wert gewesen, ähnliche Schritte einzuführen, um den Klimawandel zu verlangsamen und Tode weltweit zu verhindern? Andere Baustellen wäre die Reduktion der Verkehrsunfälle durch ausgeschilderte Fahrradwege, eine bessere suchtmedizinische Unterstützung. Günstigere Mieten und mehr nachbarschaftliche Projekte, um gesellschaftliche Einsamkeit und Wohnungslosigkeit entgegenzuwirken, welche beide zu erheblichen Schäden der Gesundheit führen. Und vor allem das Ausbilden medizinischen und pflegerischen Personals. Die Mängel sind eklatant. Ohne die KollegInnen aus dem Ausland wäre eine Versorgung, meines Erachtens, momentan nicht mehr gewährleistet.

Wenn die Politik über die Verantwortung jedes einzelnen spricht, so könnten wir der Politik ihre staatliche Verantwortung in all diesen Punkten und vielen mehr entgegenhalten. Warum bisher nicht ausreichend gehandelt wurde, aber momentan sämtliche Register gezogen werden, bleibt im Bereich der Spekulation: Die Corona-Krise ist von kürzerer Dauer. Die oben beschriebenen Maßnahmen wären langwierig und bedürfen natürlich eines starken Willens. Klimawandel, Suchterkrankung, Einsamkeit, Wohnungslosigkeit müsste als wichtig angesehen werden. Zum anderen kann eine Viruserkrankung prinzipiell jeden betreffen. Zwar wird behauptet, dass die Maßnahmen dazu dienten, ältere Menschen zu schützen. Doch in Anbetracht des mangelhaften zivilgesellschaftlichen und politischen Handels im Vorfeld und der panischen Mundschutz- und HandschuhträgerInnen dürfen diese Aussagen mit einer kritischen Distanz betrachtet werden.

Trotzdem, die Coronakrise zeigt, dass ein entschiedenes Handeln möglich ist. Aktivistis könnten diesen Spielraum für zukünftige Argumentationen nutzen. Auf der anderen Seite stellt sich die Frage nach den Grenzen gesundheitspolitischen Handelns. Wo Freiheitseinschränkung legitimiert werden, können dieser auch missbraucht werden. Wir dürfen zudem nicht vergessen, dass Krankheit ein Teil unseres Lebens bleiben wird, wie sollten wir damit also umgehen?

Wir haben es nicht nur mit einer Verschiebung im alltäglichen Handeln zu tun, sondern auch mit einer Machtverschiebung der Schulmedizin, mit der sie ihre prominente Stellung wieder herstellen konnte. In den letzten Jahren wurde diese Machtstellung immer vermehrt in Frage gestellt: Durch Eigenrecherche via Google, unterschiedliche kulturelle Gesundheitsvorstellungen und die immer beliebter werdende Alternativmedizin, allen voran die Homöopathie. In Zeiten der Krise sind diese Stimmen fast verstummt. Den Experten der Robert-Koch-Instituts und prominenten VirologInnen wird gelauscht und nach ihren Empfehlungen gehandelt. Empfehlungen sind Befehle geworden. Es bleibt spannend, wie sich die Deutungsmachtverhältnisse nach Corona entwickeln werden.

Antworten auf meine eingangs gestellten Fragen habe ich keine gefunden, sondern nur mehr Fragen. Ich plädiere dafür diese mit einem zeitlichen Abstand erneut zu stellen und gegebenenfalls zu beantworten.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden