Allah ist weit, Assad ist näher

Frontstadt Im türkischen Antakya hat die Koexistenz der Kulturen ausgespielt, wenn ­die alewitischen Bewohner der Grenzstadt auf sunnitische Flüchtlinge aus Syrien treffen

Ismail Tekmen sitzt in der hinteren Ecke des Affan-Cafés im Herzen der Altstadt Antakyas. In aller Ruhe legt der 81-Jährige Solitärkarten auf dem Holztisch vor sich aus und rührt den Zucker durch seinen Tee. „Wir sind alle gleich hier in Antakya. Wir wurden alle vom gleichen Gott geschaffen“, glaubt Tekmen und schiebt einen Stapel Karten zur Seite. Er gehört zur alewitischen Gemeinschaft, einer der vielen Religionsgruppen in der Türkei.

Antakya liegt nicht weit weg von der Grenze zu Syrien und markiert einen Schnittpunkt der Kulturen und Religionen. Für Jahrhunderte stießen im antiken Antiochia Europa und das Morgenland aufeinander. Die Stadt wird sowohl in der Tora, als auch in der Bibel und im Koran erwähnt. In Antiochia sollen die Anhänger Jesu zum ersten Mal Christen genannt worden sein.

Bis heute leben hier die Glaubensgemeinschaften fast in Tuchfühlung miteinander. So steht ein paar Häuser hinter dem Affan-Café eine Synagoge, in der gerade eine Hochzeit vorbereitet wird. Im gleichen Haus, ein Stockwerk höher, betreibt ein orthodoxer Christ ein kleines Hotel. Wo die Straße einen Knick macht, steht das Minarett der sunnitischen Habib-Neccar-Moschee. Unweit davon hat die alewitische Gemeinde ein Cemevi – ein Gebetshaus.

Höchstens zehn Minuten

„Diese religiösen Kulturen sind einfach so gewachsen“, meint Schwester Barbara. Die 55-jährige Franziskanerin, eine gebürtige Wiesbadenerin, ist vor 30 Jahren nach Antakya gekommen und führt heute ein Ökumenisches Begegnungshaus der katholischen Kirche. Sie dirigiert zudem einen Chor, der Gläubige aller Konfessionen Antakyas vereint. Premier Tayyip Erdogan lud das Ensemble vor geraumer Zeit zur gemeinsamen Tour nach Frankreich ein, um bei einem Staatsbesuch zu demon­strieren, wie multikulturell die Türkei sein kann. „Wir sind in Erdogans privatem Flugzeug mit geflogen“, erinnert sich Schwester Barbara und lacht. Doch sei das Zusammenleben in der Stadt bei weitem nicht immer harmonisch, auch mache sich inzwischen der Bürgerkrieg im benachbarten Syrien bemerkbar.

„Die Alewiten wollen uns Schlechtes“, ist Muhsen Mohammed sicher. „Man sieht es daran, wie sie einen auf der Straße ansehen. Manchmal rufen sie aufgebracht: ‚Wir lieben Bashar al-Assad mehr als Gott’.“ Mohammed ist sunnitischer Moslem aus Syrien. Vor einem Monat floh er nach Antakya, als die Assad-Armee im Begriff war, seine Heimatstadt Idlib anzugreifen. Nun verfolgt ihn der Konflikt zwischen Sunniten und Alewiten, vor dem er sich in Sicherheit bringen wollte, auch hier.

Syriens Präsident Assad ist für viele Alewiten in der Türkei ein Held, weil er als einer der Ihren gilt, die Glaubensbrüder in Syrien protegiert und schützt. „Meine Wurzeln sind arabisch, doch ich bin gleichzeitig Türke, weil ich hier lebe“, sagt Tekmen im Affan-Café. „Bashar al-Assad und sein Vater Hafez waren gut für Syrien.“ Von den etwa 220.000 Einwohnern Antakyas haben besonders die Alewiten Verwandte im Nachbarland. „Was dort passiert, geht auf keine Freiheitsbewegung zurück, sondern auf Terroristen. Die wollen die Regierung stürzen, weil sie alewitisch ist“, lässt Tekmen keinen Zweifel.

Flüchtling Muhsen Mohammed erzählt die andere Geschichte. Seine Stadt Idlib sei eines der Zentren des Aufstands. „Unter Assad konntest du dich niemandem anvertrauen. Du konntest noch nicht einmal mit deinem Bruder darüber reden, was du über das Regime denkst.“ Als Idlib Anfang März angegriffen wurde, hätten die Sicherheitskräfte begonnen, Oppositionelle zu verhaften. „Die Polizei teilte mir mit, ich solle auf die Wache kommen“, erinnert sich Mohammed. „Sie sagten, es würde höchstens zehn Minuten dauern – es wurden zehn Tage daraus. Ich hörte Schreie aus den Nachbarzellen, wo sie Menschen mit Kabeln schlugen“, sagt Mohammed und rührt vier Löffel Zucker in seinen Tee.

Er habe in Idlib ein Internetcafé zusammen mit einer Drogerie betrieben. „Eines Tages brachen Soldaten in mein Geschäft ein, zerschlugen alles und warfen jeden Pflegeartikel auf die Straße. Jetzt ist die wenigstens sauber.“ Im Zufluchtsort Antakya lebe er von Ersparnissen und vom Geld, das ihm Brüder aus den USA und aus Saudi-Arabien schicken. „Es ist schwer für uns, hier ein Haus oder eine Wohnung zu mieten. Viele Alewiten wollen mit uns nichts zu tun haben, weil wir Sunniten sind.“ Immer wieder gäbe es in der Stadt Pro-Assad-Demonstrationen. Hunderte skandierten dann: „Nur Allah, Syrien und Bashar!“

Massaker in Sivas

„Früher war es in Antakya nicht sicher für uns Alewiten“, erinnert sich Ismail Tekmen seiner Jugend. „Auf die Straße ging man am besten in einer Gruppe oder gar nicht.“ Tatsächlich gab es in der Türkei während der vergangenen Jahrzehnte häufig Pogrome gegen Alewiten. Besonders erschütternd war ein Anschlag vor knapp 20 Jahren in Sivas, als 37 Menschen während eines alewitischen Kulturfestivals getötet wurden. Tausende Sunniten hatten ein Hotel umzingelt, in dem sich alewitische Künstler aufhielten. Der aufgebrachte Mob rief „Tod den Ungläubigen!“ und steckte das Gebäude in Brand. Die Polizei schaute tatenlos zu. Wochenlang lebte die Türkei wie im Ausnahmezustand. In Antakya blieben die Schulen aus Angst vor Ausschreitungen lange geschlossen.

Ismail Tekmen, der in Antakya aufwuchs und mit einer kleinen Transportfirma früher viel im Osten der Türkei unterwegs war, bleiben solche Geschichten ein Trauma, von dem man sich nie lösen kann. „Wir sind eine Minderheit in einem sunnitischen Land. Heute ist die Situation besser, aber es bleibt schwierig.“ Tatsächlich wächst unter den türkischen Alewiten die Angst, dass es in Syrien zu Gräueltaten gegen ihre Glaubensbrüder kommt. Schon jetzt häufen sich Berichte von gezielten Angriffen Aufständischer gegen alewitische Zivilisten, die in den Augen sunnitischer Fundamentalisten nichts als Ketzer sind. Ungeachtet dessen meint der Flüchtling Muhsen Mohammed: „Mittlerweile würde ich Hilfe von jedem annehmen, um Assad zu stürzen – von den Israelis, von den Muslimbrüdern, von jedem!“

Raphael Thelen hat für den Freitag jüngst aus dem Post-Gaddafi-Libyen berichtet

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