Helfen die Hilfen?

Somalia Die internationale Somalia-Konferenz in London beschäftigt sich auch mit künftiger humanitärer Hilfe. Diese kann jedoch manchmal mehr Schaden anrichten als nutzen

Die Londoner Somalia-Konferenz vereint an diesem 23. Februar Delegationen von 40 Regierungen, Gesandte der Afrikanischen Union, der Arabischen Liga, der Vereinten Nationen und Europäschen Union. Sie alle widmen sich der inneren Sicherheit ebenso wie der lokalen Stabilität oder dem Anti-Terror-Kampf, nicht zuletzt der humanitären Hilfe. Besonders die Afrikanische Union ist hier mit ihrer Somalia-Mission (AMISON) engagiert, aber auch sie kann nicht ersetzen, was in diesem seit zwei Jahrzehnten „gescheiterten Staat“ (Failed State) entbehrt wird: eine möglichst im ganzen Land wirksame Exekutive und ein kollektiver Wille über Clan-Grenzen und religiöse Barrieren hinweg, einer solchen Regierung Vertrauen zu schenken. Solange beides fehlt, wird Somalia immer wieder mit humanitären Krisen und Katastrophen konfrontiert sein, die in unterversorgten Gebieten auftreten. Dabei könnte die Notlage von Hunderttausenden durchaus vermeidbar sein – auch ohne intakten somalischen Staat –, wäre die internationale Unterstützung für den Agarsektor effektiver. Gleichfalls ließe sich fragen, ob es jede Situation rechtfertigt, sie mit kaum zu übertreffender Dramatik darzustellen.

Der Umgang mit humanitären Krisen folgt immer dem gleichen Drehbuch: Jede wird als „historisch“ bezeichnet; Spendenaufrufe werden mit herzzerreißenden Bildern hungernder Frauen und Kindern hinterlegt. Die Internationale Gemeinschaft besucht in Gestalt von UN-Vertretern und Kameraleuten das Katastrophengebiet, um sich aus erster Hand einen Eindruck zu verschaffen. Hierauf folgen dann oft Benefizkonzerte, weitere Spendenaufrufe und die Besuche von Prominenten in Flüchtlingscamps. Das Problem besteht darin, dass die Bilder und Geschichten, die wir den internationalen Medien verdanken, nicht so objektiv sind, wie wir gern glauben würden. Häufig stammen sie von Mitarbeitern der Hilfsorganisationen vor Ort, deren Angaben Journalisten ungeprüft übernehmen. Die Erzählung wird dadurch sowohl vorhersagbar als auch einseitig.
Die niederländische Journalistin Linda Polman glaubt, dass dieses „ungesunde“ Verhältnis zwischen Journalisten und Hilfsorganisationen eine unabhängige, objektive Berichterstattung unmöglich macht. Oft genug werde Letztere auch einfach vollständig von einer Hilfsorganisation übernommen. Der werde ein Anspruch auf Neutralität unkritisch abgekauft, auch gäbe es auf Seiten der Medien so gut wie keinen Versuch, die von Hilfsorganisationen verbreiteten Fakten und Zahlen zu überprüfen. Dabei sind diese manchmal übertrieben oder basieren auf fehlerhaften Daten, wie ich selbst von meiner Arbeit bei einer UN-Agentur weiß.

Weniger als eine halbe Million

Entgegen der verbreiteten Akzeptanz der von den Hilfsorganisationen verbreiteten Zahlen werden immer mehr Zweifel darüber laut, ob die Hungersnöte, die in Somalia ausgerufen wurden, wirklich so groß waren bzw. sind, wie man uns glauben macht. „Die Versuchung, das Ausmaß einer Krise zu übertreiben, um mehr Geld einzunehmen, ist immer vorhanden“, sagt der in Nairobi lebende somalische Agrarökonom Ahmed Jama. Er glaubt, dass einige Gegenden Somalias, in denen offiziell Hungersnot herrscht, wie die fruchtbare untere Shabelle-Region, in Wahrheit „lebensmittelsicher“ sein könnten. Menschen, die dort Hunger leiden, seien möglicherweise aus von der Dürre betroffenen Gebieten dorthin geflohen. Aber es liege im Interesse der Vereinten Nationen und anderer Hilfsorganisationen, ein Worst-Case-Szenario auszurufen, um die Spenden im Fluss zu halten.

Die UN benutzen eine Tabelle, die von einer – ihrer Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation unterstellten – Abteilung erstellt wurde, um den Grad der Lebensmittelsicherheit in einer Region zu bestimmen. Die Skala reicht von „grundsätzlich lebensmittelsicher“ bis „humanitäre Katastrophe“. Die Schätzungen der Abteilung, wie viele Somalier zwischen August und September 2011 unmittelbar von Hunger betroffen waren, legt nahe, dass weniger als eine halbe Million – und nicht die vier Millionen, die in der Presse zitiert wurden – darunter litten. Für rund 3, 5 Millionen Menschen war die Ernährungslage in jener Zeit zwar unsicher, aber sie verhungerten nicht, wie oftmals berichtet wurde. Zum Teil hatte fehlende Lebensmittelsicherheit auch etwa mit Inflation und gestiegenen Preisen zu tun – nicht notwendigerweise mit einer Dürre. Die EU-Kommission stellte seit 1995 Millionen Euro für landwirtschaftliche Entwicklungsprojekte in Somalia zur Verfügung. Trotzdem erhält das Land Jahr für Jahr aufs Neue Lebensmittelhilfen.

Verlangsamte Erholung

In der Tat sind Lebensmittelhilfen für Somalia seit dem Bürgerkrieg in den frühen neunziger Jahren eine permanente Einrichtung geworfen. „Es besteht eindeutig ein Missverhältnis zwischen den von der EU-Kommission zur Verfügung gestellten Ressourcen und der trostlosen Lage, die selbst in den landwirtschaftlich fruchtbarsten Regionen Somalias herrscht“, sagt Ahmed Jama. „Wie ist es möglich, dass diese EU-Investitionen in die Landwirtschaft eine Hungersnot in diesen Regionen nicht verhindern können?“
Helfen Lebensmittelhilfen?

George-Marc André, der EU-Repräsentant in Somalia, räumt vorsichtig ein, dass die EU sich Sorgen macht, ihre Bemühungen könnten durch die Überschwemmung Mogadischus mit Lebensmitteln zunichte gemacht werden. In einem Umfeld, in dem Lebensmittel kostenlos zur Verfügung stehen, erzielen die Landwirte keine angemessenen Preise für ihre Produkte. Die Lieferung von Nahrungsmitteln während der Erntezeit macht den Markt noch weiter kaputt. André ist der Ansicht, UN-Agenturen wie das Welternährungsprogramm könnten die Erholung Somalias in Wahrheit „verlangsamen“, da sie sich allein auf einen Lebensmittel-Transfer konzentrieren, anstatt die Landwirte und Märkte vor Ort zu unterstützen.

Die Lebensmittelhilfsindustrie ermöglicht es Ländern wie den USA, ihren Überschüsse an arme Länder weiterzugeben. Das zerstört gleichfalls lokale Märkte und lokale Ökonomien, besonders wenn diese Vergabe von Lebensmitteln über einen langen Zeitraum hinweg stattfindet wie in Somalia.

Was in den Spendenaufrufen nicht erwähnt wird, ist, dass Hilfsgelder auch darauf verwendet werden, Regierungsvertreter und Söldner zu bezahlen, um Lebensmittel- Konvois die Durchfahrt zu ermöglichen. In Somalia hat die von Warlords in ihrem Einzugsgebiet erhobene „Eintrittsgebühr“ in der Vergangenheit bis zu 80 Prozent des Wertes der Hilfsgüter ausgemacht. Unterdrückt werden auch Berichte über die regelmäßige Abzweigung und den Diebstahl von Lebensmittelhilfen, die Somalia erreichen. So berichtete beispielsweise die UN Monitoring Group on Somalia im März 2010, die Hälfte der Lebensmittel sei gestohlen oder von korrupten Vertragspartnern, örtlichen Geschäftsleuten, NGOs und sogar von UN-Mitarbeitern verteilt worden. Und im August 2011 berichtete Associated Press, der Verkauf von Lebensmittelhilfen sei in Mogadischu noch immer weit verbreitet.

Rasna Warah ist Kolumnistin bei der kenianischen Zeitung Daily Nation. Jüngst erschien ihr Buch: Red Soil and Roasted Maize. Selected essays and articles on contemporary Kenya. Zur Kritik der Entwicklungshilfe hat sie 2008 das Buch Missionaries, Mercanries and Misfits herausgegeben

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Übersetzung Holger Hutt

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