Über Giorgio Agamben lassen sich zur Zeit vor allem zwei Dinge sagen. Erstens: Er ist "in". Zweitens: Er ist das in den unterschiedlichsten Leserkreisen. In der FAZ, die regelmäßig Aufsätze des 1942 geborenen italienischen Philosophen publiziert, und der Süddeutschen Zeitung, wo man seiner Neuerscheinung Ausnahmezustand vor einiger Zeit eine ganze Seite widmete, interessiert man sich ebenso für ihn wie in linken Theorie- und Kunst-Zusammenhängen. Sogar Aktivisten aus dem europäischen No-Border-Netzwerk sind mit Agambens Homo Sacer unterwegs. Woher jedoch stammt die gemeinsame Begeisterung von eher kulturkonservativen Feuilleton-Redakteuren und Sympathisanten der linksradikalen italienischen Disobbedienti-Bewegung?
Der Zugang zu Agambens Schriften fällt nicht leicht. In Mittel ohne Zweck, einer zum Verständnis des Autors äußerst hilfreichen Aufsatz-Sammlung, fasst Agamben die Hauptmotive seiner Arbeit zusammen. Es geht ihm um "Erfahrungen und Phänomene ... die für gewöhnlich nicht als politische gelten", jedoch als kennzeichnend für die biopolitische Unterwerfung des Lebens unter einen Souverän gelten können. Also den Ausnahmezustand, das Konzentrationslager, den Flüchtling, die Sphäre der reinen Mittel (als "Mittel, die sich von ihrer Relation auf einen Zweck hin emanzipieren") und nicht zuletzt auch das "nackte Leben" selbst, das - so Agamben - erst durch "die biopolitische Maschine" produziert werde.
Agamben setzt damit, darauf hat Andrea Roedig hingewiesen (Freitag 20/2002), Foucaults Arbeiten fort. Der französische Philosoph arbeitete vor einigen Jahrzehnten heraus, wie sich Macht nicht vorrangig in staatlichen Ordnungen, sondern unter anderem in der Durchdringung des Lebendigen konstituiert: in der Disziplinierung und Formung von Körpern, im Reden über Sexualität, in der Normierung des "Normalen" und "Verrückten". Agamben führt diesen Ansatz auf rechtstheoretisches Terrain zurück. Er beschreibt jene Figuren, mittels derer Leben und Körper in biopolitische Objekte verwandelt werden. In diesem Zusammenhang beobachtet er eigentümliche Zwischenzustände zwischen Gesetz und Nicht-Gesetz, so etwa die römische Rechtsfigur des "homo sacer", des "heiligen Menschen". "Sacer ist derjenige, den das Volk wegen eines Delikts angeklagt hat; und es ist nicht erlaubt, ihn zu opfern, wer ihn jedoch umbringt, wird nicht wegen Mordes verurteilt." Der "Homo Sacer" steht damit außerhalb des Rechts, wobei dieser Ausschluss für die Rechtsordnung selbst allerdings konstituierend wird.
In seinem mehrbändig angelegten Homo Sacer-Projekt weist Agamben ähnliche Brüche auch hinsichtlich des Ausnahmezustands, des Souveräns, des Konzentrationslagers und schließlich des Flüchtlings nach: Der Ausnahmezustand ist jenes Recht, in dem die Rechtsgültigkeit aufgehoben ist. Ein Nicht-Recht also. Der Souverän wiederum kann in Anlehnung an Carl Schmitt als jene Macht definiert werden, die den Ausnahmezustand verkünden, das heißt, die Rechtsordnung aufheben kann. Der Souverän, der doch das Gesetz festlegt, steht damit außerhalb des Gesetzes. Das Konzentrationslager ist die Verräumlichung des Ausnahmezustands: "Es ist ein Stück Land, das außerhalb der normalen Rechtsordnung gesetzt wird, deshalb jedoch nicht einfach Außenraum ist." Und der Flüchtling oder Lagerinsasse schließlich ist Objekt dieser biopolitischen Praxis. An ihm wird die Teilung von politischer Existenz und Leben aufgehoben: Auf sein Leben wird politisch zugegriffen, ohne dass ihm ein rechtliches Dasein zugestanden würde. Auf diese Weise kam Agamben bereits in Homo Sacer - Die souveräne Macht und das nackte Leben zu seiner etwas apodiktisch in den Raum geworfenen These, wonach "das Lager und nicht der Staat das biopolitische Paradigma des Abendlandes ist". Im Zentrum der bürgerlichen Rechtsordnung, so die Kernaussage des Satzes, steht die Gesetzlosigkeit.
Diesen Gedanken leitet Agamben nun in Ausnahmezustand noch einmal ausführlich her. Er geht dabei erneut von der These des Nazi-Juristen Carl Schmitt aus, wonach Ausnahmezustand und Souveränität eng miteinander verwoben sind. Auf dieser Grundlage definiert Agamben seinen Untersuchungsgegenstand als jenen "Zustand eines Gesetzes, in dem die Norm zwar gilt, aber nicht angewandt wird (weil sie keine Kraft hat), und auf der anderen Seite Handlungen, die nicht den Stellenwert von Gesetzen haben, deren Kraft gewinnen." Damit konstituiere sich "eine Gesetzeskraft ohne Gesetz" - ein Widerspruch, den Agamben zu verschriftlichen versucht, in dem er beim Wort Gesetzeskraft einen Strich über Gesetzes legt und damit den inneren Bruch der Figur deutlich macht.
Der Ausnahmezustand zeichnet sich, so Agamben, durch seine biopolitische Aggressivität aus. Die Aufhebung der rechtlichen Bestimmungen deaktiviert nämlich "die Unterscheidung zwischen öffentlich und privat" und bringt damit jenes "nackte Leben" hervor, über das der Souverän uneingeschränkt verfügen kann. ("Nacktes Leben" ist also kein Urzustand, zu dem zurückgekehrt wird, sondern biopolitische Produktion). Bevor Agamben seine These vom gesetzlosen Kern der bürgerlichen Rechtsordnung zuspitzt, widmet er sich zunächst noch einmal einigen theoretischen und begrifflichen Grundlagen. Er skizziert Walter Benjamins (dessen Arbeit Agamben als Herausgeber der italienischen Übersetzung eng verbunden ist) und Carl Schmitts Überlegungen zum Verhältnis von gesetzloser Gewalt und Souveränität, um Schmitt mit Benjamin zu widerlegen.
Der von Schmitt angestellte Versuch, die Gesetzlosigkeit als Ausnahmezustand zu ordentlichem Recht zu machen und so der Staatsmacht einzuverleiben, bezeichnet Agamben als "fictio iuris", als rechtstheoretisches Manöver. Erst nach diesen und einigen historischen Betrachtungen zu römischen Varianten der Anomie sowie zur Unterscheidung zwischen auctoritas und potestas kommt Agamben schließlich zu einem Fazit. Dieses lautet, dass sich die offensichtlich im Zentrum jeder politischen Souveränität verborgene bloße Gewalt ausdehne und diese Anomie das Recht verdrängt. Düster konstatiert Agamben: "Der Ausnahmezustand hat heute seine weltweit größte Ausbreitung erreicht." Beunruhigender Weise lässt sich diese Entwicklung nicht durch eine Rückkehr zu einer "liberalen", die Allmacht des Souveräns einschränkenden Rechtspolitik umdrehen. Die Verbindung von Recht und bloßer Gewalt, so Agamben, habe sich offenbart, und der Begriff des "Rechts" an sich sei damit in Frage gestellt. Agamben enttarnt damit zwar einerseits die Schmittsche Verbindung von Recht und Gewalt als Manöver (das unter anderem die Legitimität des Souveräns stärken soll); kennzeichnet gleichzeitig aber auch die "liberale" Trennung von Recht und Gewalt als Illusion, weil sich Souveränität ohne nackte Gewalt gar nicht konstituieren könne.
Agambens Perspektive ist düster, die von ihm knapp skizzierten Interventionsmöglichkeiten undeutlich. Man müsse Formen eines politischen Handelns entwickeln, das "jeden Bezug zwischen Gewalt und Recht rückgängig" macht, schreibt er. Es ist offensichtlich, dass es sich dabei um Praxen gegen Lagerpolitik, Migrations-Regimes, staatliche Biopolitik und die im Rahmen so genannter Terrorismusbekämpfung faktischen Ausnahmezustände handelt.
Dass das bürgerliche Feuilleton Agamben so sehr schätzt, bleibt vor diesem Hintergrund letztlich bemerkenswert. Man kann es wohl damit erklären, dass Agambens in Notizen gefasste und assoziativ angeordnete Schriften sehr unterschiedlich gelesen werden können. Man kann von seinem gewaltigen, fast enzyklopädischen Wissensschatz profitieren, ohne der herrschaftskritischen Dimension seiner Arbeit größere Bedeutung beizumessen.
Giorgio Agamben:
Homo Sacer - Die souveräne Macht und das nackte Leben. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2002, 211 S., 10 EUR
Mittel ohne Zweck - Noten zur Politik. Diaphanes-Verlag, Zürich, Berlin 2004, 148 S., 14,80 EUR
Ausnahmezustand. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2004, 112 S., 9 EUR
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