Das gute Leben war nie so nah

Bewegung Akzelerationismus ist ein großes Thema. Seine Vertreter wollen uns Fortschrittsoptimismus einimpfen. Doch sie irren in ihrem Vertrauen auf Technik-Utopien
Ausgabe 52/2015

Lange schien sich das Feuilleton, wenn überhaupt, nur für eine fortschrittsskeptische Kritik der Gesellschaft zu interessieren. Man diskutierte den Soziologen Hartmut Rosa, der die Beschleunigung der Lebensverhältnisse angriff und damit eine Neuauflage der Entfremdungskritik lieferte, oder den Medientheoretiker Byung-Chul Han, der sich mit Essays über das selbstunternehmerische Ich-Management im digitalen Zeitalter in die Herzen gegenwartsmüder Oberstudienräte und Kunststudenten geschrieben hatte.

Doch nun schwingt das Pendel zurück. „Akzelerationismus“ gilt als angesagt – eine politische Philosophie, die sich unmissverständlich zur Moderne bekennt. Die britischen Sozialwissenschaftler Nick Srnicek und Alex Williams, die 2013 der Strömung mit einem Manifest ihren Namen gaben, haben in Inventing the Future: Postcapitalism and a World Without Work unlängst noch einmal erklärt, worum es geht. Die Linke, so schreiben sie, habe sich in „folk politics“ verloren: einer Politik, die das „Kleinteilige, Authentische, Traditionelle und Natürliche“ idealisiere und sich auf symbolischen Widerstand beschränke. Als Beispiele führen sie die 15M-Bewegung, das Unsichtbare Komitee und Occupy an.

Doch erfolgreich könne die Linke nur sein, wenn sie größer und fortschrittsoptimistischer denke. Es brauche eine Gegenstrategie, die ähnlich dem Neoliberalismus einen Plan verfolgt, und dafür wiederum eine große Utopie. Srnicek und Williams wissen, wo ein solches Projekt zu finden ist: im technischen Fortschritt, der radikale Arbeitszeitverkürzung möglich macht.

Was also jetzt: schneller oder langsamer? Brauchen wir eine Kritik von Smartphone und 140-Zeichen-Verblödung oder eine unbedingte Bejahung der Produktivkräfte? Eigentlich sollte einem bereits der gesunde Menschenverstand sagen, dass diese Fragestellung nichts bringt. Wie man zur Technik steht, hat in erster Linie damit zu tun, welchen Machtverhältnissen jene folgt. Schnellere Rechner für Kriegsdrohnen oder dezentrale Energieversorgung? Preiswerte Malariamedikamente oder Gen-Saat für Monsanto? Das gilt umgekehrt genauso für Verlangsamung und Selbstorganisation: Die brasilianische Landlosenbewegung MST steht sicher auf der Seite des sozialen Fortschritts; selbstorganisierte Slow-Food-Gruppen bürgerlicher Gutverdiener aber sind nur eine weitere Form von Konsum.

Die Frage ist also nicht, ob unsere Gesellschaft schneller oder langsamer werden sollte, sondern welchen Interessen ihre Entwicklung dient. Dabei würde sich eine Mehrheit der Weltbevölkerung wohl durchaus darauf einigen können, was zu tun ist. Globale Umverteilung wäre ziemlich vernünftig. Denn soziale Ungleichheit macht krank, erzeugt Stress, fördert asoziale Verhaltensweisen und führt, wie man in jeder Großstadt des globalen Südens erleben kann, zu bürgerkriegsähnlicher Gewalt.

Steuern, Allmende, Commons

Und mehr noch: Wir wissen sogar, wie sich mehr soziale Gleichheit herstellen lässt. Durch Steuern beispielsweise. Kapital-, Unternehmens-, Erbschafts- und Vermögensteuern sind effiziente Mittel, um Ungleichheit abzubauen. Man könnte privates Eigentum in gemeinschaftliches überführen: mehr öffentliche Güter, staatliche Grundversorgung, traditionelle Allmende und digitale Commons. Nebenbei würden dabei die Aussichten besser, den Klimawandel zu stoppen. Denn eine Kooperation vieler ist nur dann möglich, wenn Profitinteressen Einzelner in den Hintergrund treten.

Doch woran liegt es dann, dass das offensichtlich Vernünftige nicht getan wird? Daran, dass die Macht dazu fehlt. Dies ist keine Frage von Regierungen, sondern von gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen. Ohne soziale Kämpfe, Proteste, Streiks, breite gesellschaftliche Bewegungen lässt sich Gleichheit nicht durchsetzen.

Die Akzelerationisten haben recht: Das gute Leben war noch nie so greifbar wie heute. Trotzdem liegen sie falsch: Mehr Maschinenkraft und höhere Geschwindigkeit helfen nicht weiter. Und leider auch keine Regierungswechsel. Die Arbeiterbewegung konnte im 20. Jahrhundert einiges durchsetzen, weil sie eine Gegenmacht war. Es stimmt, dass eine derartige Bewegung eine Utopie braucht. Aber die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts zeigen deutlich, dass technischer Fortschritt allein diese utopische Erzählung nicht mehr sein kann.

Raul Zelik hat kürzlich mit Elmar Altvater das Buch Vermessung der Utopie veröffentlicht

Illustrationen zu dieser Ausgabe

Die Bilder der Ausgabe sind illustrierte Zukunftsvisionen von Klaus Bürgle aus dem vorigen Jahrhundert: „90 Prozent waren Forscherwissen, das andere Fantasie und Konstruktion.“ Mehr über den extraterrestrischen Grafiker erfahren Sie im Beitrag von Christine Käppeler

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