Dieser Tage kommt man als Besucher in Katalonien mit seinen politischen Begrifflichkeiten ordentlich durcheinander. Da gibt es eine Unabhängigkeitsbewegung, die mit Nationalfahnen an „Refugees Welcome“-Demonstrationen teilnimmt, sich nicht weniger, sondern mehr Europa wünscht und unter „Selbstbestimmung“ nicht Grenzen, sondern Demokratie versteht. Es ist eine bewundernswert entschlossene Bewegung: Am verbotenen Unabhängigkeitsreferendum Anfang Oktober beteiligte sich trotz massiver Schlagstockeinsätze der Polizei fast die Hälfte der Wahberechtigten. Schon im Vorfeld hatten hunderte Freiwillige Urnen über die Grenze geschmuggelt, Zehntausende schützten die Abstimmungslokale friedlich gegen die anrückende Polizei.
Mit dem typischen Nationalismus, der nach oben buckelt und nach unten tritt, hat die katalanische Unabhängigkeitsbewegung also wenig gemein. Die Publizistin Ulrike Guérot hat vor diesem Hintergrund in einem Text für Zeit Online die These aufgestellt, dass man „sich die regionale politische Energie, die derzeit durch Europa fließt, positiv zunutze machen sollte, anstatt sie brachial zu unterdrücken“. Immerhin hätten schon die Pioniere des europäischen Föderalismus in den 1920er und 1930er Jahren gewusst, dass eine europäische Einigung nicht mit Nationalstaaten, sondern nur mit – vergleichbar starken – Regionen zu haben sein werde. Und genau diese Frage nach einer Integration jenseits der Nationalstaaten werde jetzt durch Katalonien neu aufgeworfen.
Guérots Einwurf ist schon deshalb wertvoll, weil er nicht einfach wiederholt, was sowieso gerade alle sagen – dass nämlich „Kleinstaaterei rückständig ist“. Und richtig ist auch Guérots Hinweis, dass die Nationalstaaten Europas keineswegs jene geglückten Zivilisationsprojekte sind, als die sie uns oft verkauft werden. Frankreich beispielsweise, das man gern für sein republikanisches Staatsbürgerschaftskonzept lobt, hat gegenüber den bretonischen, korsischen oder baskischen Randgebieten eine ziemlich chauvinistische Assimilationspolitik verfolgt. Und die Strategie Großbritanniens gegenüber Irland und Schottland, wo die von Marx beschriebene ursprüngliche Akkumulation auch eine ethnische Komponente besaß, trug koloniale Züge.
Natürlich liegen aber auch die Einwände gegen Guérots Argumentation sofort auf der Hand. Sie erklärt das Erstarken von Unabhängigkeitsbewegungen wie in Schottland oder Katalonien damit, dass „ethnische Region und Staatlichkeit“ sich nicht decken. Doch so dankenswert es ist, darauf hinzuweisen, dass die Verteidigung einer Sprache oder kulturellen Gemeinschaft nicht überall und zwangsläufig ein rechtes Projekt sein muss, bleibt die Rede von der „ethnischen Region“ trotzdem problematisch. Die Betonung kultureller Identität führt in der Regel schnell zur Abgrenzung nach außen und zur Verteidigung eigener ökonomischer Vorteile. Die Zentrifugalkräfte in einem „Europa der Regionen“ wären groß – auch dann, wenn es endlich eine demokratisch legitimierte europäische Regierung, eine gemeinsame Öffentlichkeit und ein Parlament mit echter politischer Macht gäbe.
Insofern sei dahingestellt, ob der katalanische Fall für eine Neuausrichtung der Europadebatte taugt. Die demokratische Selbstorganisierung der Menschen in Katalonien ist in diesen Tagen überwältigend, aber wie jeder Unabhängigkeitsbewegung wohnt auch dieser die Gefahr einer Abschließung inne. Man muss also zunächst einmal konstatieren, dass es sich um einen speziellen Fall handelt: Der spanische Staat ist auch vier Jahrzehnte nach dem Ende der Diktatur strukturell so tief im Franquismus verankert, dass die Unabhängigkeitsbewegungen im Staat – neben der katalanischen und der baskischen gibt es sehr viel kleinere, aber politisch durchaus vergleichbare Bewegungen in Galicien, Andalusien, Valencia, auf den Balearen, den Kanaren und sogar in Kastilien – eher links stehen und antifaschistische Werte verteidigen. Der spanische Philosoph Santiago Alba, Kritiker der katalanischen Forderungen, schrieb unlängst, die Unabhängigkeitslinke strebe danach, „die Republik wieder aufzubauen, die Franco ganz Spanien geraubt hat“.
Vielleicht ist es also eher das, was Katalonien jetzt auch für eine europäische Debatte wichtig macht. Die Menschenmengen, die sich gewaltlos den auf sie einschlagenden Sicherheitskräften entgegenstellen und Generalstreiks ohne Gewerkschaften organisieren, stellen die politische Kraft der Vielen unter Beweis. Und sie zeigen, dass die Forderung nach Souveränität – unter bestimmten Voraussetzungen – links und demokratisch sein kann. In Katalonien geht es mittlerweile nicht mehr um die Anerkennung einer minoritären Nation, sondern um die Rückgewinnung politischer Kontrolle über das Leben.
Zentralstaat in Bedrängnis
Dass diese in Zeiten globaler Finanzmärkte kaum zu haben sein wird, mag stimmen. Aber es ist doch bemerkenswert, dass Hunderttausende bereit sind, für demokratische Souveränität auf die Straße zu gehen. Die Menschen in Katalonien wollen eine sozialere Republik aufbauen, einen „nordischen Staat“, wie es der bürgerliche Ministerpräsident Carles Puigdemont ausdrückt. Sie wollen, dass die über 30 fortschrittlichen Gesetze, die das katalanische Parlament verabschiedet, der Zentralstaat jedoch einkassiert hat, endgültig in Kraft treten. Sie wollen einen Verfassungsprozess mit massiver Bürgerbeteiligung und einige diskutieren, wie in Lateinamerika, bereits auch über „Nahrungsmittelsouveränität“ als Grundlage einer regionaleren, ökologisch nachhaltigeren Agrarpolitik.
All das mag scheitern, und doch blitzt hier ein demokratisch gewendeter Begriff von Volkssouveränität auf, die über den Nationalstaat hinausreicht. Dass diese Bewegung – anders als die rassistischen Bestrebungen sonst in Europa – mit allen polizeistaatlichen Mitteln bekämpft wird und die Organisatoren friedlicher Demonstrationen im Gefängnis sitzen, zeigt, wie sehr sich der Nationalstaat bedrängt sieht.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.