Ein-Mann-Klima-Arbeitereinheitsfront

Porträt Cedric Büchling ist Schichtarbeiter bei VW – und Aktivist bei Fridays for Future. Das ist kein Widerspruch, findet er
Ausgabe 48/2020

Um 22 Uhr, an der Straßenbahnhaltestelle VW-Werk in Kassel-Baunatal: Es ist dunkel, kalt und nass. Die letzten paar Hundert Meter zum Werktor geht Cedric Büchling zu Fuß. Der 24-jährige Aktivist der Klimajugendbewegung Fridays for Future arbeitet im Dreischichtbetrieb bei Deutschlands größtem Autobauer, doch den eigenen Pkw hat er vor einiger Zeit abgeschafft. Zwar baut VW in Kassel mittlerweile vor allem Elektroautos, aber Büchling tritt für den grundlegenden Umbau des Verkehrsmodells ein. Mit neuen Antriebstechnologien allein sei Klimaneutralität nicht zu schaffen. Und weil Büchling der Ansicht ist, dass Reden und Handeln zueinanderpassen sollten, hat er jetzt gar kein Auto mehr. „Ist nicht immer einfach“, sagt er. „Neulich wurde bei den Verkehrsbetrieben gestreikt. Da musste ich mich von einem Kollegen mitnehmen lassen, aber der hat sofort gefeixt: Ich solle mir gefälligst ein eigenes Auto kaufen.“ Büchling lacht.

Wenn man am späten Abend vor der Fabrik steht, merkt man aber auch schnell, dass die täglichen Straßenbahnfahrten das geringste Problem sind. Die Gesichter der auf das Werktor zuströmenden Beschäftigten zeugen davon, dass Schichtarbeit an die Substanz geht. „Das Stressigste ist, dass sich der Schlafrhythmus ständig verschiebt“, erzählt Büchling. „Diese Woche arbeite ich nachts, nächste Woche ab 14 Uhr, eine Woche später ab sechs Uhr morgens. Das geht aufs Immunsystem. Als ich angefangen habe, wurde ich sofort erst mal krank.“ Studien belegen, dass SchichtarbeiterInnen von Schlafstörungen und psychischen Belastungen, aber auch einer stark erhöhten Anfälligkeit für Kreislauf- und Krebserkrankungen betroffen sind. Dazu kommt der Wegfall sozialer Beziehungen. Doch trotz der Strapazen sind die Jobs bei VW sehr gefragt. „Das Schmerzensgeld stimmt“, erklärt Büchling. Fast 4.000 Euro brutto verdienten die Beschäftigten im Schichtbetrieb. Mit Wochenendzulagen sei es sogar noch ein ganzes Stück mehr – in Deutschland liegen die Gehälter vieler HochschulabsolventInnen deutlich darunter.

22 Uhr 10. „Ich muss rein“

Doch der Lohn sei für ihn nicht ausschlaggebend gewesen, fügt der junge Klimaaktivist hinzu. „Ich habe nach der Schule eine Weile in Sozialprojekten als Freiwilliger gearbeitet, ein Semester Jura studiert und mir dann überlegt, dass ich für die Gewerkschaft arbeiten will. Mein Vater ist Betriebsrat bei VW, meine Mutter bei der IG Metall.“ So habe er eine dreijährige Ausbildung zum Mechatroniker bei VW angefangen. „Und wenn man hauptamtlich Gewerkschafter werden will, sollte man auch wissen, wovon man spricht.“ Deshalb arbeitet Büchling jetzt erst einmal im Dreischichtbetrieb.

Er blickt auf die Uhr, 22 Uhr 10. „Ich muss rein.“

Zum Interview am Abend darauf verabredet sich Büchling in der Kneipe „Bei Ali“. Auch das sagt einiges über den Fridays-for-Future-Aktivisten aus. Im von Einfamilienhäusern geprägten Kassel ist die arme und migrantisch dominierte Nordstadt so etwas wie die Schmuddelecke. Nur eine Straße entfernt liegt das Internetcafé, in dem die Rechtsterroristen des Nationalsozialistischen Untergrunds 2006 den 21-jährigen Halit Yozgat erschossen haben. Und „Bei Ali“ ist genau einer dieser Läden, gegen die sich der rechtsextreme Terror richtete. Von außen wirkt die schmucklose Kneipe wie ein Kiosk, drinnen dominieren Fußball und Politik. An den Wänden hängen Schals von Schalke und St. Pauli oder Plakate der kurdischen Linkspartei HDP.

Auf die Frage, wie er zu Fridays for Future gekommen sei, antwortet Büchling, dass er die Umweltbewegung erst relativ spät für sich entdeckt habe. „Als Jugendlicher bin ich erst einmal in die Kirche eingetreten. Das war so was wie eine Rebellion gegen meine Eltern – ich komme ja aus einer Gewerkschafterfamilie.“ Über die Kirche habe er ein Freiwilliges Soziales Jahr gemacht, einen Pfarrer aus Kamerun kennengelernt und sei dann nach Westafrika gegangen, um in einer Schule zu unterrichten. „In dem Jahr bin ich zehn Mal an Malaria erkrankt.“

Warum hat er den Freiwilligeneinsatz nicht gleich abgebrochen? Büchling winkt ab: „Ich hab immer gemerkt, wenn die Malaria kam. Außerdem waren wir ziemlich privilegiert. Mit unserer Versicherung konnten wir in gute Krankenhäuser.“ Zurück in Deutschland habe er sich dann von der Kirche wegentwickelt – und der Gewerkschaft verschrieben. Nach einem Semester Studium begann er die Ausbildung bei VW.

„Am schwersten“, erinnert er sich, „war am Anfang das Feilen. Wir mussten drei Monate lang nur feilen.“ Parallel dazu engagierte er sich bei der IG Metall, sei aber schnell genervt gewesen von den verkrusteten Strukturen der Industriegewerkschaft. Und so habe er, als die Klimabewegung 2018 und 2019 die Schulen erfasste, Fridays for Future als politischen Ort für sich entdeckt. „Als Berufsschüler konnte ich allerdings nicht einfach mitstreiken.“ Er gründete die Strategie-AG von Fridays for Future aktiv und kümmert sich um den Aufbau von Bündnissen zwischen der Klimabewegung und den Gewerkschaften.

Büchling bringt in seiner Person etwas zusammen, das in der politischen Debatte oft als unvereinbar gilt: die Anliegen von Beschäftigten und Umweltbewegung. Bei den Blockaden im Kohletagebau kam es in den vergangenen Jahren immer wieder zu heftigem Streit zwischen AktivistInnen von „Ende Gelände“ und den Kohlekumpels. Fühlten sich die VW-KollegInnen nicht auch von den Fridays-for-Future-Aktionen provoziert? Büchling ist sofort hellwach: „Genau das müssen wir unbedingt verhindern: dass Kollegen eine Aktion als Angriff auf sich verstehen. Die Ausgangssituation ist aber auch anders. Bei der Kohle ist klar, dass die Interessen richtig in Widerspruch zueinander stehen. Bei der Automobilindustrie muss das nicht so sein. Die Klimabewegung will ja nicht, dass es gar keine Mobilität mehr gibt, sondern dass sich das Modell verändert. Und dafür brauchen wir einen Umbau der Industrie.“

Obwohl er gerade einmal 24 Jahre alt ist, scheint Büchling genau zu wissen, wo man strategisch hinmuss. In der deutschen Umweltbewegung wurden Gewerkschaften bislang als Bremser oder sogar als Gegner kritisiert. Erst seit Kurzem bemühen sich einige Gruppen gezielt um Kontakte mit Gewerkschaften. Einige erste gemeinsame Aktionen gab es bereits, etwa als IG Metall und Verdi ihre Mitglieder dazu aufriefen, an der Großdemonstration von Fridays for Future im September 2019 teilzunehmen. Und neue Bündnisse mit den Gewerkschaften entstehen – vor allem für den Ausbau des öffentlichen Personennahverkehrs und für eine bessere Bezahlung von BusfahrerInnen. Für Büchling ist das erst der Anfang: „Ich glaube nicht, dass meine Kollegen scharf darauf sind, im Schichtbetrieb Autos zu bauen. Die würden auch Busse fahren oder Straßenbahnen produzieren. Das Problem ist, dass in der Automobilindustrie durch die Macht der Gewerkschaften gute Löhne und soziale Rechte erkämpft wurden. Und das wollen die Leute verständlicherweise nicht verlieren.“

Der Stolz der Technikarbeiter

Aus Büchlings Sicht eröffnet der Umbau der Industrie und der strukturelle Wandel durch die Verkehrswende aber auch eine demokratische Chance – denn in einer ökologischen Transformation könnte die Gesellschaft überlegen, was, wie und wozu sie produziert. „Bei uns im Betrieb gibt es diesen Produzentenstolz. Man findet es gut, hochwertige Technik zu produzieren. Im Diesel-Skandal hat das einen Knick bekommen. Weil man das Gefühl hatte, die Kunden beschissen zu haben. Aber die Corona-Krise hat auch eine neue Perspektive eröffnet: Das war schon beeindruckend, wie schnell manche Autobetriebe auf die Produktion von Medizingeräten umgestellt haben.“

Wieder blitzen die Augen des Klimaaktivisten auf. Ob man schon einmal davon gehört habe, dass es bei VW früher konkrete Konversionspläne gab? „Im Kalten Krieg. Es ging darum, die Montagebänder innerhalb von vier Wochen auf die Rüstungsproduktion umzustellen. Wenn man Panzer bauen kann, dann sind auch Straßenbahnen und Lastenräder möglich. Und für so ein Verkehrsmodell braucht man auch neue Jobs.“

Büchling isst sein abendliches Mittagessen auf, einen Teller Pasta von der Tageskarte, und blickt aufs Handy. Über die Chatgruppen von Fridays for Future flattern unablässig Nachrichten herein. Aber jetzt interessiert ihn die Uhrzeit. In 80 Minuten fängt seine Nachtschicht an. Zeit für ihn, zur Straßenbahn zu gehen.

Raul Zelik ist Sozialwissenschaftler, Autor und Übersetzer. 2020 ist sein Buch Wir Untoten des Kapitals. Über politische Monster und einen grünen Sozialismus bei edition suhrkamp erschienen

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