Einstieg in die Restlaufzeit

Bruchstellen Soziale Massenproteste von Chile über Israel bis Spanien deuten auf ein Ende des bisherigen Kapitalismus hin. Doch klare Alternativen werden nicht erkennbar

Es scheint, als würde das in den Globalisierungsdiskursen der neunziger Jahre so häufig beschworene „globale Dorf“ doch noch Wirklichkeit. Die Bilder aus Griechenland, Italien, Ägypten oder Chile sahen sich zuletzt zum Verwechseln ähnlich: Aufgebrachte Jugendliche liefern sich Straßenschlachten mit der Polizei, die Staatsmacht geht mit enthemmter Gewalt gegen eine bislang als unpolitisch geltende Generation vor. Auch die neuen Aktionsformen weisen über Landesgrenzen hinweg überraschende Gemeinsamkeiten auf: Nachdem man in Kairo die Diktatur von Hosni Mubarak unter anderem mit einer Zeltstadt auf dem Tahrir-Platz in die Knie gezwungen hat, wird auch in Barcelona, Madrid und Tel Aviv das subversive Potenzial des Campierens im öffentlichen Raum entdeckt. Zehntausende vereint, um konzentriert und gut gelaunt über die Krise des Kapitalismus zu diskutieren. Wer hätte das vor einem Jahr für möglich gehalten?

Es ist sicher richtig, dass sich die Proteste nicht einfach gleichsetzen lassen. Schülern und Studenten in Chile geht es darum, die Regierung zu höheren Ausgaben im Bildungswesen zu zwingen. Wegen der fast vollständigen Privatisierung der Universitäten ist Jugendlichen aus der Unterschicht der Weg an die Hochschulen faktisch verstellt. In Griechenland protestieren Beschäftigte, Arbeitslose und Rentner seit mittlerweile über einem Jahr gegen fallende Löhne, Entlassungswellen und gekürzte Sozialausgaben. Die spanische Bewegung 15-M verlangt eine Re-Demokratisierung der Gesellschaft – eine Forderung, die sie allerdings mit sozialen Anliegen verknüpft. In Italien wiederum hatten Studentenunruhen im Dezember 2010 mit einem neuen Sparpaket der Berlusconi-Regierung zu tun. Die Proteste in Israel schließlich, die im Augenblick bis zu 300.000 Menschen auf die Straßen bringen, richten sich gegen extreme soziale Polarisierungen im Land.

Trotz aller Differenzen kann man festhalten, dass es überall um Verteilungsfragen geht. Das stimmt auch für Ägypten, wo die Demokratiebewegung als Sozialrevolte gegen Hungerlöhne und Arbeitslosigkeit entstand – und für Großbritannien. Dass die Jugendlichen in London, Liverpool und Manchester ihre Energie überwiegend darauf verwendeten, iPhones und andere Statussymbole des gehobenen Konsums zu erbeuten, und bei ihrem Aneignungsfeldzug gegen Menschen aus den eigenen Vierteln vorgingen, mag deprimieren. Aber es ändert nichts daran: Auch bei dieser Revolte ging es um soziale Teilhabe.

Keine Machtoption

Obwohl die Arbeiterklasse tot ist und von den Protestierenden in Kairo, Barcelona, London, Santiago de Chile oder Tel Aviv wohl kaum einer sein Handeln als Ausdruck globaler Klassenkämpfe beschreiben würde, stellen die Proteste in gewisser Hinsicht doch genau das dar. Der neoliberal artikulierte, finanzmarktgetriebene Kapitalismus hat die sozialen Widersprüche in den vergangenen 30 Jahren radikal verschärft. Das bleibt nicht länger ohne Gegenreaktion.

Dass sich die Unruhen jetzt häufen, hat natürlich mit der Schuldenkrise zu tun. Es wäre zu erwarten gewesen, dass die Verteilungskonflikte statt mit den neoliberal umgebauten Staaten direkt mit den Profiteuren – sprich: den Besitzern großer Vermögen – ausgetragen würden. Doch für massive Lohn- oder Mietkämpfe scheinen die Lebens- und Arbeitsverhältnisse zu fragmentiert: Outsourcing, Scheinselbstständigkeit und die Internationalisierung von Arbeitsprozessen lassen die Konfliktlinien verschwimmen. So wird der Staat, der seit dem Banken- und Finanzcrash von 2008 mit immer größeren Haushaltsdefiziten zu tun hat, zum Adressaten des Protests.

Was werden die neu entstandenen, diffusen Gegenbewegungen in Gang setzen? Anders als die vom Staats- und Revolutionsmarxismus geprägten Bewegungen des 20. Jahrhunderts postulieren sie – jenseits ihrer radikaldemokratischen, solidarischen Praxis – kein Gegenprogramm. Eine Machtoption sind sie nicht und wollen es auch nicht werden. Nichtsdestotrotz ist ihre Wirkung schon jetzt enorm. Selbst überzeugten Konservativen dämmert, dass die neoliberalen Strategien zur Krisenbewältigung das Gefahrenszenario noch verschlimmert haben. In einem viel beachteten Kommentar beklagte Charles Moore – ehemaliger Chefredaktor des britischen Daily Telegraph und seines Zeichens ein treuer Anhänger der ehemaligen konservativen Premierministerin Margaret Thatcher – Banker und Medienbarone hätten die westlichen Demokratien gekapert. Der Tenor dieser und anderer Kritiken legt nahe, eine Stärkung des Staates werde für vernünftig gehalten, um egoistisch handelnde Macht- und Geldeliten in ihre Schranken verweisen zu können.

Für einen derartigen Politikwechsel gibt es ein paar ziemlich stichhaltige Argumente. Der deutsche Wirtschaftsweise Peter Bofinger hat jüngst vorgerechnet, dass die Schuldenkrisen der USA und Japans mit einer anderen Fiskalpolitik durchaus zu bewältigen seien. Wären die Steuern in beiden Ländern so hoch wie im EU-Durchschnitt, so Bofinger anhand von OECD-Zahlen, hätten die USA kein Haushaltsdefizit von zehn Prozent, sondern ein positives Saldo von 3,5 – Japan gar von 4,7 Prozent.

Auch in der EU könnte eine Hochsteuer- und Wohlfahrtspolitik die Krise abfedern. In den skandinavischen Ländern, die ob ihrer hohen Staatsquote lange gescholten wurden, ist die soziale Ungleichheit deutlich geringer als im Rest Europas, auch die öffentlichen Haushalte sind – trotz hoher Sozialausgaben – ausgeglichener. So konnten Dänemark, Finnland und Schweden seit 2000 fast durchgehend Haushaltsüberschüsse verzeichnen. Erst 2009 rutschten sie ins Minus, allerdings weit weniger dramatisch als im Rest Europas. Die Alternative lautet anscheinend nicht: kürzen oder pleite gehen, sondern umverteilen oder pleite gehen.

Skandinavisches Vorbild

In Skandinavien belaufen sich die Staatseinnahmen auf 55 Prozent des Bruttoinlandsprodukts – in Deutschland, wo die Situation schlechter ist, liegt die Quote nach den massiven Steuersenkungen unter der rot-grünen Bundesregierung bei 44, in den USA bei 30 Prozent. Im Widerspruch zum üblichen Lamento von Unternehmern hat die skandinavische Steuerpolitik jedoch weder zu Kapitalflucht noch ökonomischer Stagnation geführt. Im Gegenteil: Das Wachstum in den skandinavischen Ländern ist stabiler als im Rest Europas. Höhere öffentliche Ausgaben im Bildungs- und Pflegebereich ziehen eben nicht nur eine höhere Lebensqualität nach sich, sondern sorgen auch für eine effizientere Verteilung der Einkommen. Die ist in doppelter Hinsicht sinnvoll: Wird großer Vermögensbesitz durch Steuern reduziert, nimmt das Druck aus den Finanz- und Spekulationsblasen, zudem steigt die Binnennachfrage, weil niedrige Einkommen prozentual mehr ausgeben als hohe.

Steht der steuerfinanzierte Interventionsstaat also vor einer Renaissance? Bislang kam die von Grünen und Linksliberalen geführte Green-New-Deal-Debatte erstaunlich realitätsfremd daher. Man postulierte eine ökologische Innovation des Kapitalismus, ohne zu fragen, wer einen solchen Kurswechsel, der ja auch auf eine massive Umverteilung hinausliefe, gesellschaftlich durchsetzen sollte. Der historische New Deal entsprang nicht einer Laune des US-Präsidenten Franklin D. Roosevelt, sondern war Resultat heftiger Arbeits- und Gewerkschaftskämpfe in Nordamerika.

Die momentane Protestwelle verweist darauf, dass die Kräfte für einen Politikwechsel durchaus vorhanden sind. Doch ist zu bezweifeln, ob eine aktivere Steuerpolitik und eine sozialökologische Transformation in der aktuellen Krise ausreichen. Dass das Kapital Ende der siebziger Jahre massiv in die Finanzmärkte zu flüchten begann und den Staat zu einer drastischen Senkung der Steuerquote zwang, hatte nicht einfach mit einer Gier der entsprechenden Akteure zu tun. Es war vielmehr eine Reaktion darauf, dass das keynesianisch-fordistische Modell an seine Grenzen stieß. Kapital ließ sich kaum noch produktiv investieren, Märkte waren gesättigt, Wachstumsraten fielen stark ab, der gesellschaftliche Kitt verlor seine Bindungskraft.

So hat die augenblickliche Krise mehr denn je damit zu tun, dass der heutige Kapitalismus von zu großen Produktionskapazitäten und einer enormen Überkapitalisierung geprägt ist. Niemand weiß, wo all das Kapital verwertet werden soll. Im Prinzip bedürfte es einer gewaltigen Wertvernichtung, die freilich Dutzende Millionen Menschen in den Industriestaaten enteignen würde. Gleichzeitig ist das Wachstumsmodell so nicht mehr tragbar. Die stoffliche Expansion, die der Akkumulation von Kapital zugrunde liegt, stößt an natürliche und ökologische Grenzen. Und schließlich ist auch international nichts mehr im Lot: Die Hegemonialmacht USA befindet sich im freien Fall, die Wechselkurssysteme stehen vor dem Kollaps. Mit einer besseren, sozialeren Steuerpolitik allein wird es also nicht getan sein. Wir müssen ganz neu überlegen.

Raul Zelik ist Buchautor und Professor für Politik an der Nationaluniversität Kolumbiens in Medellin

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