Hinter Gittern, hinter Glas

Spanien Neun Jahre Haft soll der katalanische Politiker Jordi Cuixart verbüßen. Ein Besuch im Hochsicherheitsgefängnis
Ausgabe 02/2020

Die einstündige Fahrt führt lange an Kataloniens berühmtestem Berg entlang. Schroff erhebt sich der Montserrat aus einer Hügellandschaft. Das zerklüftete Sandsteingebirge leuchtet ockerfarben, darüber ein wolkenloser Himmel wie ein blassblaues Tuch. Man mag nicht glauben, dass nur 50 Kilometer entfernt die Ausläufer Barcelonas beginnen. Der Anblick erinnert an das Monument Valley im Südwesten der USA und deutet weniger auf einen der am dichtesten besiedelten Ballungsräume Europas hin. Umso stärker ist der Kontrast bei der Ankunft am Hochsicherheitsgefängnis von Lledoners, einem hermetisch wirkenden Bau mit sechs Meter hohen Mauern, Stacheldrahtzäunen und Sichtblenden, trostlose, industrielle Gefängnisarchitektur.

Jordi Cuixart, Präsident von Kataloniens größter zivilgesellschaftlicher Organisation Òmnium Cultural, dem der Besuch in diesem Kasten gilt, lässt sich davon nicht beeindrucken. Der 44-Jährige wirkt noch genauso vital wie vor seiner Verhaftung im Oktober 2017, als er unermüdlich auf Straßenfesten und Demonstrationen unterwegs war. Der Mantel, den er auch im Gefängnis trägt, ist mittlerweile etwas ausgebeult, der Bart länger geworden – sonst hat sich Cuixart wenig verändert. Gut gelaunt erzählt er, er habe in den 1990er Jahren als Kriegsdienstverweigerer schon einmal kurz davor gestanden, ins Gefängnis zu gehen, damals habe er Karl Liebknecht für sich entdeckt. „Ich bin nicht hier, um mich zu verteidigen, sondern um anzuklagen“, zitiert er aus der Liebknecht-Rede vor dem Oberkriegsgericht 1916 in Berlin. „Das war unser Motto für den Prozess: Wir haben keinen Grund, uns zu entschuldigen. Wir haben dafür gekämpft, dass Menschen selbst entscheiden können – wir würden es wieder tun.“

„Rädelsführer“ für nichts

Der Prozess gegen Jordi Cuixart und seine Mitangeklagten vor dem Obersten Gericht in Madrid war einer der größten Justizskandale Europas. Er führte vor Augen, in welch bemitleidenswerter Verfassung sich die spanische Demokratie und die EU befinden. Cuixart wurde wegen der Beteiligung an friedlichen Protesten zu neun Jahren Haft verurteilt. Vorgeworfen wurde ihm vor allem seine Rolle in der Nacht vom 20. auf den 21. September 2017, als die spanische Polizei wenige Tage vor dem Unabhängigkeitsreferendum am 1. Oktober Büros der Autonomieregierung durchsuchte und Mitarbeiter verhaftete. Zehntausende strömten damals spontan zusammen, um deren Abtransport zu verhindern. Jordi Sànchez und Jordi Cuixart, beide Vorsitzende von zivilgesellschaftlichen Organisationen, versuchten die Menge zu beruhigen und zu beschwichtigen. Obwohl nichts groß passierte, bewertete die Justiz das Verhalten von Sànchez und Cuixart als Rädelsführerschaft und Aufruhr.

Noch härter traf es die Mitglieder der katalanischen Regierungsparteien. Wegen der Vorbereitung des Referendums wurden sie zu zehn bis dreizehn Jahren Haft verurteilt. Die Parlamentspräsidentin Carme Forcadell bekam elfeinhalb Jahre, weil sie eine Parlamentsdebatte über eine katalanische Verfassung zugelassen hatte. „Es ist sehr hart“, sagt Cuixart im Besucherraum des Gefängnisses. „Ich habe zwei kleine Kinder. Das eine kam erst vor ein paar Monaten zur Welt.“ Die wöchentlichen, 40-minütigen Familienbesuche finden mit Trennscheibe statt, nur einmal im Monat darf er mit seiner Frau ein paar Stunden ohne Scheibe verbringen. „Trotzdem bin ich mir sicher, dass wir das Richtige tun. Wir kämpfen für das Recht auf Demokratie.“ Und wieder lacht Cuixart entschlossen.

In Spanien stellt man die Katalanen als Nationalisten dar, die den wirtschaftlichen Reichtum nicht teilen wollen. Jordi Cuixart weist das zurück. „Mit Nationalismus hat das wirklich gar nichts zu tun. Unser großes Glück ist, dass in Katalonien 70 Prozent der Bevölkerung mindestens einen Elternteil von außerhalb haben. Auch ich selbst: Meine Mutter kommt aus dem südspanischen Murcia. Und was die ökonomische Seite angeht: Die katalanische Oberschicht gehört zu den erbittertsten Gegnern der Unabhängigkeit. Weil ihre Interessen untrennbar mit der Macht in Madrid verknüpft sind.“

Obwohl Spaniens Regierungschef Pedro Sánchez wieder mit den katalanischen Parteien verhandelt, glaubt Cuixart nicht, dass sich an seiner Lage in absehbarer Zeit etwas ändern könnte. Die Justiz, die über seine Freilassung entscheiden müsste, sei fest in den Händen der Rechten, und die regierenden Sozialisten des PSOE haben jüngst im Wahlkampf immer wieder versprochen, keinerlei Zugeständnisse zu machen. Und dann ist da noch die Uneinigkeit der katalanischen Parteien, die in den vergangenen zwei Jahren ihre Positionen getauscht zu haben scheinen. Vor dem Referendum 2017 vertrat die linksrepublikanische ERC von Vizeregierungschef Oriol Junqueras die radikalere Position und forderte den schnellen Abschied von Spanien, während die bürgerlichen Partei Junts per Catalunya von Ministerpräsident Carles Puigdemont auf einen Dialog mit Madrid setzte. Nun scheint es umgekehrt zu sein: Die ERC verhandelt in Madrid über eine Tolerierung der PSOE-Regierung, während Junts per Catalunya verlangt, die Sozialdemokratie müsse erst das katalanische Selbstbestimmungsrecht anerkennen.

Cuixart, der keiner der beiden Parteien angehört, versucht beiden Positionen etwas abzugewinnen. „Wir brauchen Verhandlungen ohne jede Vorbedingung“, sagt er, was sich wie ein Plädoyer für die Tolerierung der PSOE-Regierung anhört. „In der Frage des Selbstbestimmungsrechts aber muss es bei den Sozialisten Konzessionen geben. Ich bin nicht ins Gefängnis gegangen, nur damit sie mich wieder freilassen. Unsere Rechte müssen anerkannt werden. Die Menschen in Katalonien wollen selbst über ihre Zukunft entscheiden.“

Solidarischer Gewerbepark

In Sants, einem Arbeiterviertel im Westen von Barcelona, kann man beobachten, dass dieser Wunsch längst nicht nur nationale Facetten hat. Ivan Miró, der wie Cuixart im Jahr 1976 geboren wurde, in dem Diktator Franco starb, ist Aktivist der katalanischen Genossenschaftsbewegung. Die Kooperativen hätten in der Region eine lange Tradition und einen politischeren Charakter als anderswo, erklärt der Mann, auf dessen T-Shirt die katalanische Parole Entre totes, tot („Gemeinsam – alles“) zu lesen ist. „In der anarchosyndikalistischen und republikanischen Arbeiterbewegung bis in die 1930er Jahre waren viele Genossenschaften so etwas wie Selbsthilfestrukturen. Wie ein soziales Zentrum für die Arbeiter einer Fabrik, unten waren Konsumgenossenschaften oder eine Kantine, oben Veranstaltungsräume.“ Miró bleibt vor einem sanierten Gebäude stehen, das einst die Arbeiterkooperative La Lleialtat Santsenca beherbergte. „Die Genossenschaft wurde von republikanischen Arbeitern 1928 gegründet, die Franquisten haben sie zwangsenteignet. Vor kurzem haben sich die Nachbarschaftsorganisationen aus dem Viertel das Gebäude zurückgeholt.“

In der „Loyalität“ bietet heute eine Sprachschule kostenlose Katalanisch-Lehrgänge für Einwanderer an, Tanzkurse und Theatervorführungen finden statt, eine Genossenschaft betreibt ein Restaurant. Schon die Sanierung war Teil des politischen Projekts, Nachbarschaftsgruppen und ein Architekturkollektiv aus dem Viertel haben die Pläne diskutiert. Die alten Innenwände und Fliesen wurden an vielen Stellen erhalten, zugleich Decken entfernt, um helle Innenräume zu haben, die eine Kommunikation zwischen den Projekten erleichtern. Beim Gang durch das Gebäude wird deutlich, dass die Einrichtung angenommen wird. An einem ganz normalen Montagvormittag turnen etwa 50 Rentner in einem Saal, während in zwei Klassenzimmern pakistanische und chinesische Frauen Katalanisch lernen.

„Die Stadt bezahlt die Instandhaltung, aber das Hausrecht hat die Vollversammlung der Nachbarschaftsvereine. Alle Betriebe, die hier arbeiten, müssen Kooperativen sein“, sagt Miró. Aus seiner Sicht geht es um eine große strategische Frage: Wie kann aus lokaler Selbstverwaltung eine Alternative zum Kapitalismus entstehen? Dabei setze man nicht nur auf soziale Infrastrukturen, ebenso auf Wirtschaftsbetriebe. Miró führt schließlich zur Textilfabrik Can Batlló, die 2010 durch Nachbarschaftsinitiativen besetzt und in ein soziales Zentrum verwandelt wurde. Seitdem entstanden zahlreiche Genossenschaften auf dem Gelände, dazu eine „Baumschule für Kooperativen“. In neu errichteten Büros können Betriebe die ersten drei Jahre mietfrei arbeiten – ein solidarischer Gewerbepark.

Auch hier sollen öffentliches Eigentum und Selbstverwaltung zusammenfinden. Der Umbau der Gebäude wurden von der Stadt Barcelona und der Regierung Kataloniens finanziert. Die Nachbarschaftsversammlung hat das Hausrecht inne, und die Genossenschaften müssen als Gegenleistung für ihre Unterbringung Projekte für die Nachbarschaft anbieten. Dabei achten die Genossenschafter von Sants darauf, weder von einer Regierung noch von einer linken Partei abhängig zu werden. „Wir arbeiten sowohl mit der Autonomieregierung als auch mit der Stadtregierung von Ada Colau“, sagt Miró. Es sei Ausdruck von Volksmacht, wenn Menschen selbstregierte Strukturen schaffen. Dieser Tage würden 25 weitere Kooperativen ein neues Projekt einige Straßenzüge entfernt eröffnen.

Unübersehbar stellt sich die Lage hier ganz anders dar als im Rest Spaniens. Während dort der politische Aufbruch nach den Platzbesetzungen der „Indignados“ (Empörten) von 2011/12 verebbt ist, gibt es in Katalonien keine Stagnation, sondern Straßen- und Autobahnblockaden, zivilen Ungehorsam und Frauenstreiks. Niemand kann vorhersagen, was davon dauerhaft sein wird, nur ist die Stimmung trotz aller Repression nicht verzweifelt. Was er von Jordi Cuixart halte, frage ich Ivan Miró zum Abschied. „Einer von uns“, antwortet er und lächelt fast genauso freundlich, wie es der inhaftierte Cuixart getan hat.

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