Nach der Konterrevolution: Ein Linkstrend gibt noch keine Linkswende
Brasilien Nicht nur in Brasilien gab es eine Politikwende – die Rechte verliert kontinuierlich an Regierungsmacht, die Mehrheit der Staaten in Lateinamerika wird nun links regiert. Erleben wir eine zweite „progressive Welle“?
Mit der Vereidigung von Luiz Inácio da Silva als brasilianischer Präsident am 1. Januar wird die politische Landkarte Lateinamerikas einmal mehr rot eingefärbt. Fast überall auf dem Subkontinent stellen Politiker, die der Linken zugerechnet werden, den Staatschef. In Mexiko und Argentinien versuchen sich Andrés López Obrador und Alberto Fernández an einer Linie, die sozialpolitische Forderungen und die Stärkung des Nationalstaats kombiniert. In Chile regiert der erst 36-jährige ehemalige Studentenführer Gabriel Boric mit einem eher linksalternativen Programm. In Kuba hält sich trotz US-Blockade und ökonomischer Dauerkrise der Staatssozialismus der Castro-Ära. Und in Kolumbien, mit rund 52 Millionen Einwohnern nach Brasilien u
n und Mexiko das bevölkerungsreichste Land Lateinamerikas, gibt es mit dem Ex-Guerillero Gustavo Petro erstmals überhaupt einen linken Präsidenten. Obgleich diese Liste beeindruckend ist, kann anders als zu Beginn der 2000er Jahre bislang nicht von einer „progressiven Welle“ die Rede sein. Zu ungünstig sind die Kräfteverhältnisse, zu unklar die Reformagenden.Chavistisches JahrzehntDas war vor zwei Jahrzehnten anders. Damals führten Volksaufstände gegen die neoliberale Politik in vielen Ländern des Kontinents zu einem Kollaps der politischen Systeme und zu Wahlerfolgen neuer linker Bewegungen. Dabei tat sich vor allem der venezolanische Offizier Hugo Chávez als Motor der Veränderung hervor. Obwohl er zunächst nur mit dem Versprechen angetreten war, die Korruption in seinem Land zu bekämpfen, profilierte sich Chávez ab 2001 immer deutlicher als Sozialist. Er setzte eine Verfassung mit rätedemokratischen Elementen durch, renationalisierte die Ölförderung seines Landes, legte gigantische Sozialprogramme auf, stärkte Genossenschaften und propagierte eine antiimperialistische Süd-Süd-Kooperation. Während der Politikwechsel in Venezuela selbst bald versandete, weil Chávez die Bevölkerung nur kurzfristig zu mobilisieren verstand und es ihm nicht gelang, die vom Öl geprägten Wirtschafts- und Staatsstrukturen zu transformieren, strahlte das Projekt auf dem Kontinent noch eine ganze Weile aus. Venezuela wurde zum Beweis dafür, dass eine andere Politik möglich war – und ebnete damit in jener Zeit progressiven Regierungen in Argentinien, Bolivien, Honduras, Ecuador und Paraguay den Weg. Zudem stimulierte Venezuela die Kompromissbereitschaft der lateinamerikanischen Eliten: Um radikale Bewegungen zu stoppen, investierten selbst neoliberale Rechte plötzlich in Sozialprogramme.Brasilien unter Präsident Lula da Silva (2003 – 2011) und seiner Nachfolgerin Dilma Rousseff (2011 – 2016) hatte in dieser Konstellation eine Mittelposition. Einerseits pflegten die Regierungen des Partido dos Trabalhadores (PT) gute Beziehungen zu Chávez und blieben den Gewerkschaften im eigenen Land verbunden. Andererseits ging ihre Politik über einen sozialliberalen Kompromiss nicht hinaus: Lulas Sozialprogramme verhalfen Millionen Armen zum Aufstieg in die Mittelschicht, ohne extrem ungleiche Verteilungsverhältnisse anzutasten. Wichtigste Nutznießer von Lulas und Rousseffs Strukturpolitik (ganz ähnlich wie in Venezuela mit Rohstoffexporten finanziert) waren Agrarbusiness, Finanzsektor und Baukonzerne.Dass der „progressive Zyklus“ Mitte der 2010er Jahre zu Ende ging, hatte vorrangig mit zwei Faktoren zu tun: dem Einbruch der Ölpreise 2014 und dem Zerfall der Allianzen, auf die sich die Linksregierungen stützten. Fast überall in Lateinamerika beruhten deren Projekte auch darauf, dass man Machteliten in Wirtschaft, Staat und Armee freie Hand bei der Korruption ließ. In Venezuela führte die systematische Ausplünderung der Staatskassen zum Kollaps der Öl-Ökonomie, in Brasilien nutzte die Rechte Korruptionsskandale (an denen sie paradoxerweise selbst beteiligt war), um die Linke staatsstreichartig von der Macht zu entfernen.Mit der neuen rechten Welle sollten die Uhren auf dem Kontinent radikal zurückgedreht werden. Extrem autoritäre, wirtschaftsliberale und antifeministische Politiker wie Jair Bolsonaro (Brasilien), Mauricio Macri (Argentinien), Sebastián Piñera (Chile) und Iván Duque (Kolumbien) bestimmten das Bild. Die Aufrüstung der Polizei ersetzte Sozialprogramme, letzte ökologische Reserven wurden zur Zerstörung freigegeben – man pflegte die politische Rhetorik Donald Trumps. Reaktionäre Geschlechterbilder, wie sie in Lateinamerika besonders von evangelikalen Kirchen popularisiert werden, wurden zur Grundlage staatlicher Familien-, Gesundheits- und Bildungspolitik. Was ab 2015 geschah, glich einer wahren Konterrevolution.Placeholder infobox-1Dass diese Rechtsregierungen nun fast überall abgewählt sind, ist durchaus Ausdruck des Widerstandswillens in der Bevölkerung, zumal bei der neuen linken Welle außerparlamentarische Bewegungen eine zentrale Rolle gespielt haben. In Bolivien waren es gewaltsame Proteste der indigenen Hochlandbevölkerung, die verhinderten, dass sich die Putschregierung von Jeanine Áñez 2019 konsolidieren konnte. Das wurde zur Voraussetzung für einen neuerlichen Wahlsieg der Linken: Ein Jahr nach dem Sturz von Präsident Morales gewann sein Wirtschaftsminister Luis Arce mit fast 30 Prozent Vorsprung vor dem Zweitplatzierten die Präsidentenwahl.Auch in Chile ging dem Wahlsieg von Gabriel Boric ein dreimonatiger Volksaufstand voraus, der sich Ende 2019 an der Erhöhung der U-Bahn-Tarife entzündet hatte und bald sehr viel weiter reichende Ziele, nämlich die Einberufung einer verfassunggebenden Versammlung, formulierte. Und in Kolumbien verdankt der erste linke Präsident in der Geschichte des Landes sein Amt Millionen Kolumbianern, die 2021 nach der Ankündigung einer Steuer- und Rentenreform zulasten der ärmeren Bevölkerung gegen die regierende Rechte auf die Straße gingen. Nach 80 Toten und etwa 120 Verschwundenen war das politische System so diskreditiert, dass auch Teile der kolumbianischen Elite einlenkten und einen Reformprozess befürworteten. Doch trotz dieser Erfolge ist ein linker Aufbruch in Lateinamerika bislang nicht in Sicht.Die Entwicklungen in Chile sind emblematisch für die Lage: Die Protestbewegungen waren stark genug, um die alten Eliten zurückzudrängen, sind aber zu unorganisiert, um Strukturen zu transformieren. Im vergangenen Jahr legte eine von den sozialen Bewegungen dominierte verfassunggebende Versammlung einen extrem fortschrittlichen Verfassungsentwurf vor, der dann allerdings bei einem Referendum krachend durchfiel. Offenbar fühlt sich eine arme Bevölkerungsmehrheit nicht nur von den Parteien, sondern auch von den sozialen Bewegungen unzureichend repräsentiert. Zum eher beunruhigenden Panorama in Chile gehört außerdem, dass eine junge Linke in Regierungsverantwortung bislang keine wichtige ökonomische Reform umsetzen konnte.Ermutigung KolumbienDieses Dilemma lässt sich wohl für alle Länder des Subkontinents nachzeichnen. In Brasilien hat es Präsident Lula nicht mehr nur, wie schon während seiner ersten Präsidentschaft, mit mächtigen Wirtschaftsinteressen und ihm feindlich gesinnten Medienkonzernen, sondern zugleich mit einer überwältigenden rechten Mehrheit im Kongress zu tun. In Venezuela hat der Chavismus zwar die politische Macht verteidigt, sich dafür aber aller progressiven Ziele entledigt: Rohstoffvorkommen werden privatisiert, die Wirtschaft ist dollarisiert, von den Sozialprogrammen ist wenig übrig. Und die Ereignisse in Peru zeigen, dass lateinamerikanische Eliten gewählte Präsidenten einfach komplett blockieren können. Der politisch unerfahrene Gewerkschafter Pedro Castillo konnte in den 17 Monaten seiner Präsidentschaft nicht ein einziges stabiles Kabinett bilden. Als er versuchte, in dieser Lage eine verfassunggebende Versammlung einzuberufen, folgten Sturz und Festnahme.Gegenwärtig noch am ermutigendsten ist die Lage in Kolumbien, wo die Linksregierung in nur fünf Monaten deutlich mehr Wandel bewirkt hat, als man erwarten durfte. Obwohl Gustavo Petros Sammlungsbewegung Pacto Histórico nur ein Fünftel der Parlamentssitze stellt, hat sich der Präsident eine Mehrheit organisiert und zentrale Reformen in Angriff genommen: die Einführung eines Steuersystems, das die Reichen stärker belastet, die Verteilung von Land an Kleinbauern, die Wiederaufnahme der Friedensverhandlungen mit der ELN-Guerilla.Petro entmilitarisiert die Drogenbekämpfung und beschränkt neue Bergbauprojekte. Dass er dabei bereits Erfolge erzielen konnte, hat hauptsächlich mit zwei Faktoren zu tun: dem politischen Geschick dieses Präsidenten und dem Volksaufstand von 2021. Petro bewegt sich seit den 1970er Jahren – als er sich als klandestines Mitglied einer Guerilla in einen Stadtrat wählen ließ – zwischen Radikalopposition und Reform. Er weiß, wie man in Institutionen agieren sollte, die emanzipatorischen Zielen feindlich gesinnt sind. Gleichzeitig haben die blutigen Proteste von 2021 auch in den traditionellen Parteien die Einsicht verbreitet, dass es ganz ohne Reform nicht mehr geht.Freilich ist die Situation in Kolumbien alles andere als eindeutig: Paramilitärische Gruppen verüben weiter Morde an Bauernführern. Und in Konzernspitzen und in der Armee wartet man nur auf eine Gelegenheit, die Regierung zu stürzen.
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