Soziale Bewegungen entstanden zwar nicht erst 1968, aber das Jahr stellte auch in dieser Hinsicht einen Einschnitt dar. Die vom Autoritarismus der Fabrikgesellschaft ausgelöste Rebellion richtete sich nicht nur gegen das System, sondern auch gegen die Politikformen der Linken. Bemerkenswerterweise waren sozialdemokratische und kommunistische Parteien in Westeuropa von dieser Revolte gleichermaßen betroffen. Ob in Deutschland, Frankreich oder Italien – 1968 entstand eine Linke, die sich von den bestehenden Linksparteien scharf abgrenzte.
Die Bewegungen, die die politische Bühne in den Folgejahren prägten, bearbeiteten zwar ganz unterschiedliche Themen, hatten aber auch erstaunliche Gemeinsamkeiten. Einerseits waren die neuen sozialen Bewegungen sehr pragmatisch: Sie strebten Konkretes im Hier und Jetzt an: Frauenemanzipation, selbstbestimmte Jugendzentren, Umweltschutz, internationale Solidarität. Andererseits stellten sie die Verhältnisse radikal in Frage. Die Bewegungspolitik formulierte das Versprechen von Basisdemokratie, Selbstorganisation und direkter Aktion. Alle sollten mitentscheiden können; Aktionen wurden nicht delegiert, sondern selbst organisiert: Blockaden, Happenings, Besetzungen, Streiks ...
Dieses neue Politikverständnis war von Anfang auch eine Antwort auf die Krise der Demokratie. Denn schon damals gab es das, was heute als „Repräsentationskrise“ herumgeistert. Statt „die da oben vertreten uns nicht“, hieß es allerdings: „Wenn Wahlen was ändern würden, wären sie verboten.“ Das war zwar nicht ganz richtig (der Aufstieg der AfD zeigt deutlich, dass Wahlen etwas ändern), aber eben auch nicht falsch. Denn für das Unbehagen mit der Demokratie gibt es gute Gründe – über die selten gesprochen wird. Diese haben allerdings wenig mit schlechten Politikern, hingegen viel mit dem Wesen bürgerlicher Gesellschaften zu tun.
Die Theorie der liberalen Demokratie proklamiert, dass politische Entscheidungen von der Gesamtheit der Bürger auf Grundlage freier Wahlen und offener Meinungsbildung getroffen werden. Das Problematische an dieser Darstellung ist, dass die grundlegenden Machtstrukturen der bürgerlichen Gesellschaft – die ungleichen Eigentumsverhältnisse – dabei systematisch verschleiert werden. Das wiederum erleben wir als unauflösbaren Widerspruch: Vermögensbesitzer, Manager und Kapitalfonds können ihre Interessen viel besser geltend machen als die unteren Klassen. Sie können Medienkonzerne aufbauen, Lobbyismus betreiben, Denkfabriken gründen, Studien erstellen lassen, und sie verfügen nicht zuletzt ganz konkret über einen großen Teil des Lebenszeit derer, die bei ihnen arbeiten. Anders ausgedrückt: In der liberalen Demokratie entscheiden wir nicht über die Rahmenbedingungen unseres Lebens, sondern nur über die Zusammensetzung des Regierungspersonals. Veränderung des Lebens gibt es nur durch soziale Kämpfe, die die ungleichen Eigentumsverhältnisse angreifen und das Kapital zu Zugeständnissen zwingen.
Alle Macht den Rednern
Für die Linke besteht das Problem der bürgerlichen Demokratie darin, dass sie in diesem Widerspruch gefangen ist. Durch die Teilnahme am parlamentarischen Betrieb legitimiert sie jene Institutionen, die die ungleichen Eigentums- und Machtverhältnisse schützen. Genau das aber schien lange eine weitere Stärke der sozialen Bewegungen zu sein. Sie eröffneten die Möglichkeit, um außerhalb „des Systems“ Politik zu machen. Wer in Bewegungen aktiv war, beteiligte sich zumindest zunächst nicht an den Institutionen. Damit verwies man auch darauf, dass Demokratie mehr sein kann als die Auswahl von Politikern.
Heute, fast 50 Jahre nach dem bewegungspolitischen Aufbruch, stellen sich viele Probleme allerdings schon wieder anders dar. Die neuen Bewegungen sind längst im bürgerlichen Staat angekommen. Aus ihren Reihen sind Parteien und NGOs hervorgegangen, die sich als Teil des Institutionen-Ensembles begreifen. Parteien schätzen Protestbewegungen als Seismografen für gesellschaftliche Probleme. Selbst diejenigen von uns, die an systemkritischer Bewegungspolitik festhalten, müssen zugeben, dass die Abwesenheit von Parteistrukturen keineswegs zwangsläufig zu Gleichberechtigung geführt hat. Wer viel Zeit hat, gut redet, vielleicht auch erfolgreich intrigieren kann, entscheidet mehr als andere – das ist in einer Bewegung nicht anders als in Parteien; allerdings ist es in Bewegungen oft noch intransparenter. Auch die Begeisterung für Aktionsformen dürfte nachgelassen haben: Auf der einen Seite wirken linke Demonstrationsrituale oft ähnlich bürokratisiert wie ein CDU-Parteitag, auf der anderen können auch extreme Rechte nunmehr Kommunikationsguerilla.
Vor diesem Hintergrund ist die Gegenüberstellung von Bewegung und Partei offensichtlich zu simpel. Weder muss eine Organisation mit Satzung ein verknöcherter undemokratischer Apparat sein, noch führt Selbstorganisation zur Emanzipation – Pegida lässt grüßen. Dennoch bleibt eine Erkenntnis richtig: Politische Stimmungs- und Hegemoniewechsel werden nicht in erster Linie durch Wahlen oder gar Regierungsbildungen, sondern aus der Gesellschaft heraus in Gang gesetzt. Der Erfolg der Rechten belegt das deutlich: Die Mobilisierung des rassistischen Mobs ist ihr Motor; die Gründung von Parteien nur ein institutionelles Mittel, um die gesellschaftliche Stimmung anzufachen.
Insofern ist es begrüßenswert, wenn linke Parlamentarier die Bedeutung sozialer Bewegungen wieder stärker betonen. Was #Aufstehen angeht, gibt es allerdings gute Gründe, skeptisch zu sein. Die starke Ausrichtung auf Führungspersonen dürfte für die Entfaltung von Eigeninitiative nicht besonders hilfreich sein. Das Beispiel Podemos ist da lehrreich: Vom massenhaften Engagement der Parteibasis ist heute, nur vier Jahre nach Gründung, nichts mehr übrig. Podemos ist das, was die Parlamentsfraktion und ihr Chef Pablo Iglesias sagen.
Darüber hinaus spricht wenig dafür, dass sich Bewegungsaufbrüche proklamieren lassen. Auch hierfür gibt es ein Beispiel aus der jüngeren Geschichte: die von Yanis Varoufakis gestartete Initiative DIEM25, von der heute kaum mehr jemand spricht. Die entscheidende Frage im Zusammenhang mit „Aufstehen“ ist allerdings, woran sich ein linker Aufbruch überhaupt entzünden könnte. Sahra Wagenknecht geht davon aus, dass man die – von rechts angeführten – Anti-Merkel-Proteste nach links verschieben kann. Doch die Annahme, dass es sich bei AfD-Wählern um Verführte handelt, macht genau das, was Wagenknecht anderen Politikern vorwirft: Sie nimmt die AfD-Wähler nicht ernst. Wer eine rassistische Partei wählt, tut das aus entsprechenden Überzeugungen.
Wenn sich heute in Deutschland eine linke Bewegung formiert, dann wohl aus dem Widerstand gegen den rechten Mob. Nähme „Aufstehen“ diese Frage ebenso ernst wie die Kritik des Neoliberalismus, dann könnte die Initiative eine gute Rolle spielen. So hingegen droht sie den Rechtsruck der Gesellschaft nur weiter zu verstärken.
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