Zwei Afrikaner aus Warnemünde

Kolonialgeschichte Die wechselvolle Geschichte von Pietro und Regina Bruce, deren Vater Nayo noch als Völkerschausteller durch das Deutsche Reich reiste

An Weihnachten 1902 kam bei stürmischer See vom dänischen Gedser eine afrikanische Showtruppe zu Auftritten nach Warnemünde. Am 27. Dezember war Premiere im Hotel Schumann. Togomandingo-Truppe nannte sich das Unternehmen, bestehend aus über 30 Personen. Singend und tanzend spielten sie Pantomimen wie Sklavenmarkt, Überfall der Buschmänner und Eine Nacht im Togoland. Alles lief wie am Schnürchen. Warnemünde war die 155. Station auf der mittlerweile fünfjährigen Tournee des Nayo Bruce aus Togo. Er hatte seine Landsleute nach Europa gebracht, mit ihnen zunächst für einen deutschen Impresario gearbeitet, bis er genug über das Showbusiness wusste, um das Unternehmen selbst zu führen.

Bevor die Togomandingo-Truppe zum nächsten Gastspiel nach Stralsund weiterreiste, hatte Nayo Bruce seinen vierjährigen Sohn Pietro Baron George von Fircks als Pflegekind anvertraut. Seit seiner Geburt, am 21. Januar 1899 in Rom, war Pietro Bruce mit der Truppe unterwegs, in Italien, Frankreich, Deutschland, Österreich und Dänemark, nun sollte ein neuer Lebensabschnitt beginnen, mit festem Wohnsitz, Schulbesuch und einer soliden Berufsausbildung. Oder wie Nayo Bruce einem deutschen Journalisten erklärte: "Alle meine Kinder sollen eine vollständig europäische Erziehung erhalten und nicht so halbzivilisiert bleiben, wie ich es bin." Nayo Bruce hatte sich zwar christlich taufen lassen, blieb aber zeitlebens polygam. Fünf Ehefrauen begleiteten ihn auf der 20-jährigen Reise durch Europa; 13 Kinder wurden auf dieser Tournee geboren.

Obwohl die von Fircks´ schon recht alt waren, nahmen sie zwei Jahre später auch Pietros jüngere Halbschwester Regina zu sich. Sie engagierten einen deutschen Lehrer, weil sie mit ihren Pflegekindern einige Jahre auf ihrem Landgut bei Riga verbrachten. Dort starb der Baron 1910, seine Frau reiste mit den Kindern nach Deutschland zurück.

Die beiden Bruce-Kinder hatten klare Berufsziele: Regina wollte Lehrerin werden, Pietro zog es ins Gastgewerbe. So begann der 16-jährige Junge mit einer Kochlehre, während seine Schwester die Höhere Töchterschule besuchte und sich bei den Diakonissen in Hamburg-Altona weiterbildete. Baronesse von Fircks war bereits gestorben, Vater Nayo erlitt am 3. März 1919 einen tödlichen Infarkt in Russland. Reginas Mutter war 1917 in Baku ums Leben gekommen, die Mutter von Pietro längst nach Afrika zurückgekehrt.

Mit gut 20 Jahren fand Regina eine Anstellung als Gehilfin im privaten Kinderheim Sonnenschein in Groß-Borstel bei Hamburg. Als Afrikanerin hatte sie wenig Chancen, an einer deutschen Schule unterrichten zu können. Vermutlich war dies der Grund, warum Regina Bruce für einen merkwürdigen Vorschlag der Bremer Mission empfänglich war, ein regelrechtes Pokerspiel: Deutschland hatte im Ersten Weltkrieg seine Kolonien verloren, auch Togo, das vom Völkerbund in zwei Mandatsgebiete aufgeteilt worden war. Frankreich bekam den östlichen Teil, Großbritannien den westlichen.

Das hatte auch Auswirkungen auf die langjährige Arbeit der Bremer Mission. Wohl war ihre konfessionelle, schulische und vor allem ihre sprachliche Kompetenz für die gesamte Ewe-Region (also den Süden des heutigen Togo und Ghana) unbestritten und ihr weiteres Engagement erwünscht, doch anders als in Britisch-Togo wurde in Französisch-Togo kein deutsches Missionspersonal geduldet. An ihrer Stelle wurden nun jene Afrikaner, die jahrlang als Gehilfen im Kirchen- und Schuldienst mitgearbeitet hatten, zu vollwertigen Lehrern und Pastoren befördert. Mit den Mädchenschulen hingegen stand es prekär, weil die Deutschen in Togo keine einheimischen Lehrerinnen ausgebildet hatten. Daher war es für die Bremer ein Glücksfall, dass sie auf Regina Bruce gestoßen waren. Als Afrikanerin musste sie von der französischen Administration coloniale als Missionslehrerin akzeptiert werden; durch ihre Erziehung war sie prädestiniert, deutsches Gedankengut an togolesischen Schulen zu verbreiten. Dazu kam, dass Regina an der Diakonissenanstalt viele missionsbegeisterte Freundinnen gewonnen hatte, so dass man zu Recht enorme Spendenzuwächse erwartete.

Ein rundes Jahr dauerten die Vorbereitungen: acht Monate Französischkurs in Saintes, acht Wochen allgemeine Missionsinstruktionen in Bremen und ein ebenso langer Einführungskurs in die Ewe-Sprache. Am 31. Oktober 1926 fuhr Regina nach Lomé, zusammen mit ihren jüngeren Schwestern Annie und Lisa Bruce, die beide im christlichen Kinderheim der Graf-Recke-Stiftung bei Düsseldorf aufgewachsen waren.

Mit 20 Jahren übernahm Pietro Bruce kleine Nebenrollen in Spielfilmen wie Das Gasthaus von Chicago oder Im Kampf der Diamantenfelder. Auch später betätigte er sich hin und wieder als Schauspieler, doch ohne Ambitionen, denn er war Koch aus Leidenschaft und nach Berlin gezogen, um sich im Gastgewerbe weiterzubilden. In einer Filiale des Hotels Kempinski wurde er Chef de Parti, also Küchenmeister, und verantwortlich für Einkäufe und Kalkulation. So verdiente er gut und kaufte 1925 in Göhren auf der Insel Rügen ein Haus, das er Burg Niedeck nannte und im Hochsommer als Fremdenheim führte. In den übrigen Jahreszeiten betrieb er in Berlin eine eigene Stadtküche und lebte mit seiner Frau Charlotte in Grunewald.

1930 verkaufte er das Haus auf Rügen, weil er im Ostseebad Heringsdorf auf Usedom ein größerer Gastbetrieb erwerben konnte: die Pension Stephanie, ein schlossähnliches Gebäude an der Strandpromenade. 41 Einbett- und 40 Zweibett-Zimmer hatte das Ehepaar Bruce ganzjährig anzubieten, 74 Betten mit Vollpension, auf Wunsch auch vegetarische Menus oder spezielle Diäten.

So beliebt Regina Bruce bei ihren Schülerinnen auch sein mochte, so sehr isolierte sie sich in der christlichen Gemeinde von Lomé. Kaum jemand wollte begreifen, warum es ihr, einer Togolesin, so schwer fiel, die eigene "Muttersprache" zu erlernen. Den Pastoren bereite es Mühe, dass Lehrerin Bruce offenbar lieber europäisierte als evangelisierte. Zu Spannungen führte auch, dass Regina und ihre beiden Schwestern mehr als die männlichen Kollegen verdienten, weil - so die Argumentation der Bremer Mission - die drei jungen Frauen an europäischen Komfort gewöhnt seien. (Dass sie verhältnismäßig viel Geld brauchten, wäre indes damit erklärbar gewesen, dass die Lehrerinnen Bruce sich nicht auf die Infrastruktur eines großfamiliären Haushalts stützen konnten.)

Im August 1928 ließ sich nicht länger verheimlichen, dass Regina Bruce schwanger war. Der Vater ihres Kindes war Jonathan Savi de Tové, ein gebildeter und weit gereister Kollege. Er hatte als ganz junger Mann für den deutschen Gouverneur in Kamerun gearbeitet, war mit ihm vor den Franzosen nach Europa geflüchtet und erst um 1920 nach Togo zurückgekehrt, wo er zum Hauptlehrer an der Bremer Missionsschule ernannt wurde. Ein idealer Ehemann also für Regina Bruce, wäre da nicht ein entscheidendes Problem gewesen: Er war bereits verheiratet. Aus christlicher Sicht konnte Regina Bruce ihren Schülerinnen so kein Vorbild mehr sein. Sie wurde entlassen; auch Savi de Tové kündigte bald darauf seine Stelle.

Intern mussten sich die Verantwortlichen in Bremen eingestehen, dass die Entsendung der drei Schwestern Bruce nach Togo ein Fehler gewesen war. Trotzdem widersetzten sie sich den Wünschen von Annie und Lisa Bruce, die nach Deutschland zurückkehren wollten. Es gebe für die Bruces keine Zukunft in Deutschland, so das nicht ganz abweisbare Argument des Missionsinspektors in einem Schreiben vom 14. September 1929, "denn wer stellt bei der heutigen Arbeitslosigkeit eine Schwarze ein?".

Auch Pietro Bruce geriet in Schwierigkeiten. Es kamen keine Gäste mehr in die Pension Stephanie, und weil die Hypothekenzinsen nicht bezahlt werden konnten, wurde das Haus am 3. November 1933 zwangsversteigert. Den Zuschlag erhielt die Sparkasse Swinemünde. An mangelnder Tüchtigkeit konnte es nicht gelegen haben, denn noch im selben Jahr wurde Pietro Bruce vom Besitzer des Hotels Ostseeblick in Heringsdorf als Küchenmeister angestellt. Mit seinen Leistungen war man sehr zufrieden, so dass es dem Hotelier schwer fiel, Pietro Bruce schließlich doch wieder entlassen zu müssen: Die Stammgäste wollten keinen schwarzen Koch akzeptieren.

In anonymen Großbetrieben war es einfacher. 1936 fand Pietro Bruce Arbeit in der der Küche des Berliner Hauses Vaterland, das zum mittlerweile arisierten Hotel Kempinski gehörte. Er wurde immer stiller, zog sich zurück. Nur wenige wussten, dass seine Frau Charlotte sich umgebracht hatte. Aus Angst vor weiteren Diskriminierungen vermutlich.

Über ihren Tod ist Pietro Bruce nie hinweggekommen. Am 16. Mai 1949 nahm auch er sich das Leben. Er stürzte sich aus seiner Berliner Wohnung auf die Brandenburgische Straße.

Regina Bruce kümmerte sich als faktisch Alleinerziehende um ihre fünf Kinder. Ehemann Savi de Tové hatte, kaum aus dem Schuldienst ausgetreten, die Druckerei seines Vaters in Tové übernommen, wo ab 1934 Le Guide du Togo erschien, die Zeitung der späteren Unabhängigkeitsbewegung. Gleichzeitig arbeitete er im Informationsdienst der Administration coloniale, daneben wuchs er wie von selbst in die politische Arbeit hinein. Zunächst wurde er zum Sekretär des Conseils des Notables ernannt, einem Gremium der bedeutendsten einheimischen Clans in Französisch-Togo. Zwischen 1947 und 1953 vertrat er in der Assemblée de l´Union Française in Frankreich die Interessen der Bevölkerung von Togo. Und in den folgenden Jahren war er als Mitbegründer und Generalsekretär der Befreiungsbewegungspartei CUT maßgeblich daran beteiligt, dass Togo 1960 als souveräner Staat anerkannt wurde.

Bereits 65-jährig, wurde Savi de Tové schließlich zum Parlamentsvorsitzenden gewählt und vertrat sein Land gleichzeitig als Botschafter in der Bundesrepublik Deutschland. Dieses Mal hatte Regina Bruce den Ehemann begleitet. Nicht nur, weil die Kinder nun erwachsen waren, sie genoss es, alte Bekannte an den Orten ihrer Kindheit und Jugend zu besuchen. Wenn sie in Diplomatenkreisen auf ihre perfekten Deutschkenntnisse angesprochen wurde, erzählte sie Anekdoten aus dem Haus von Fircks: nur die wenigsten jedoch dürften gewusst haben, dass ihr leiblicher Vater im Völkerschau-Metier tätig gewesen war.

Als 1963 die CUT-Partei weggeputscht wurde, ersuchte Jonathan Savi de Tové in Bonn um Asyl. Er fand eine Anstellung als Ewe-Lektor an der Universität zu Köln, während seine Frau als Vorsitzende des Roten Kreuzes von Togo oft zu längeren Einsätzen nach Afrika reiste - so hatten sich ihre Rollen vertauscht.

Kurz vor seinem Tod reiste Jonathan Savi de Tové nach Togo zurück. Auch Regina Bruce hielt es nicht in Deutschland. Sie ist im Lauf ihres Lebens Afrikanerin geworden. Ihr jüngster Sohn, Jean-Lucien Savi de Tové, ist seit 2005 Minister für Handel, Industrie und Handwerk der Republik Togo.

Rea Brändle lebt in Zürich. Ihr Buch Nayo Bruce dokumentiert, so der Untertitel, die Geschichte einer afrikanischen Familie in Europa (Chronos-Verlag Zürich 2007). Darin berichtet sie von der 20-jährigen Tournee, beleuchtet die afrikanische Herkunft des Nayo Bruce und erzählt, was aus seinen Kindern und Kindeskindern geworden ist, in Europa und in Afrika.

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