Die Kunst der Langsamkeit

Alltag Die Berlinerin Vera Bohle ist die einzige deutsche Minenräumerin im internationalen Einsatz ...

Die Berlinerin Vera Bohle ist die einzige deutsche Minenräumerin im internationalen Einsatz

Sie bewegt sich im Schneckentempo vorwärts, ihr Blick ist auf die Erde gerichtet. Vorsichtig setzt sie einen Fuß vor den anderen, eine falsche Bewegung kann das Leben kosten. "Die Angst verwandelt sich während der Arbeit in Konzentration", sagt sie. Deswegen konserviert sie ganz bewusst ihre Angst. "Unfälle passieren vor allem den alten Hasen, die sich in Sicherheit wähnen, weil bislang nichts passiert ist - und schon lässt die Konzentration nach."

Vera Bohle - 1 Meter 84 groß und blond - ist die einzige Deutsche, die in internationalen Krisengebieten Minen räumt. Ihr letzter Einsatzort war Afghanistan, Herat, eine Stadt 1000 Kilometer westlich von Kabul nahe der iranischen Grenze. Dort schulte sie sechs Wochen lang ein Team von ausgebildeten afghanischen Minenräumern in neuen Techniken, um Blindgänger jener Streubomben aufzuspüren und zu entschärfen, die die Amerikaner im Zuge ihres Anti-Terror-Kriegs hier abwarfen.

Zu Bohles Minenräum-Team gehört immer auch ein Sanitäter. Das Minenräumen beginnt mit dem Erkunden des Gebiets. Bohle trägt dabei eine Splitterschutzweste, feste Schuhe und einen Helm mit Gesichtsschutz aus Plexiglas. Von Anwohnern und Bauern erfragt sie, wo es Minenunfälle gegeben hat. Das verminte Gebiet wird abgesteckt. Nun beginnt der gefährliche Teil der Arbeit: In ihrer rechten Hand hält Bohle einen Detektor, an dessen Ende ein kreisförmiger Sensor befestigt ist. Erspürt das Gerät einen Gegenstand, der Metall enthält, beginnt es zu piepen. Wenn Bohle eine Mine entdeckt, sticht sie mit einer "Nadel" genannten Stahlspitze im flachen Winkel in den Boden und kratzt behutsam die Erde weg. Bohle entschärft die Mine, indem sie vorsichtig mit der Hand den Zünder herausdreht. In manchen Fällen führt sie aus einiger Distanz eine kontrollierte Sprengung durch.

Die Bundesrepublik ist der größte Geldgeber bei der Minenräumung Afghanistans. Bohle sieht diese Zusammenarbeit als gute Gelegenheit, das Bild der Deutschen im Ausland zu korrigieren. "Wir Deutschen haben im letzten Jahrhundert zwei Weltkriege angezettelt. Ich kann helfen, ein positives Bild zu verbreiten." Für die Afghanen selbst ist das Minenräumen einer der wenigen gut bezahlten Jobs, Minenräumer sind zudem in der Gesellschaft hoch angesehen, weil sie einen wesentlichen Beitrag zum Wiederaufbau des Landes leisten.

Bohle war überwältigt, wie freundlich sie in Afghanistan empfangen wurde. Vor ihrem Einsatz hatte sie noch Befürchtungen, ob sie als Frau überhaupt anerkannt würde. Doch als sie in Herat ankam, war alles ganz anders, man sagte ihr: "Du musst kein Kopftuch anziehen, wenn das dich bei der Arbeit stört. Wir sind so froh, dass du gekommen bist, um uns Wissen zu vermitteln, das wir brauchen."

Wenn es nach Bohle ginge, würden bald auch afghanische Frauen zu Minenräumerinnen ausgebildet. Bei den Frauen stieß sie mit dieser Idee auf spontane Zustimmung, doch meist mischte sich dann der männliche Übersetzer ein: "Eigentlich meinen die Frauen ›nein‹. Das ist doch viel zu schwierig und anstrengend für sie!" Bei einer Arbeitslosenquote von mindestens 80 Prozent wollen die Männer die Arbeit unter sich verteilen. Ein Frauenteam sollte nach Bohles Ansicht deshalb aus Witwen bestehen, die wie die Männer Allein-Ernährerinnen der Familie sind. Für diese Frauen, die meist nicht lesen und schreiben können, wäre das eine einmalige Verdienstmöglichkeit. Ob das Projekt realisiert werden kann, werden die Gespräche zwischen den UN und afghanischen Behörden ergeben.

Mitte Februar kehrte Bohle aus Herat zurück. In Berlin wohnt sie im Stadtteil Mitte. Mit zwei anderen Frauen teilt sie sich eine Vier-Zimmer-Altbauwohnung. Ein belebtes Quartier, viel Autoverkehr, dekorative Schaufenster, um die Ecke die Volksbühne. "Das ist genau der Kontrast, den ich brauche", sagt Bohle. In der Bundesrepublik genießt sie es vor allem "normal zu sein". Als große Blonde wird sie im Ausland beständig angestarrt. In Berlin kann sie sich ungestört bewegen. Sie genießt die Annehmlichkeiten des täglichen Lebens. "Hier in Berlin habe ich immer elektrischen Strom, fließendes Wasser, ein funktionierendes Telefon - und eine Vernissage um die Ecke."

"Ich denke in Bildern", sagt Bohle. Schon in der Schule hatte sie den Wunsch, einmal im Ausland zu arbeiten. Sie wollte entweder Korrespondentin oder Entwicklungshelferin werden. Nach dem Abitur begann die gebürtige Recklinghausenerin ein Praktikum bei einer Fernseh-Produktionsfirma in Köln. Sie arbeitete als Cutterin, begann dann zu studieren: Theater-, Film- und Fernsehwissenschaften, Politologie und Geografie. Montags bis freitags ging sie zur Uni, am Wochenende jobbte sie als Cutterin, um sich das Studium zu finanzieren. Anschließend arbeitete sie beim WDR und beim ZDF-Politmagazin Kennzeichen D. Doch nur nach Vorgabe und unter Zeitdruck Themen zu recherchieren, genügte ihr nicht.

"Ich war schon immer gern unterwegs, bin aber auch immer wieder gern zurück gekommen", sagt Bohle. Als 22-Jährige reiste sie drei Monate lang zu Fuß durch Madagaskar. Zwei Jahre später durchquerte sie allein mit zwei Pferden die Mongolei. Auf diesen Reisen hat sie gelernt, unabhängig und schnell Entscheidungen zu treffen und mit sich allein auszukommen. "Die Erfahrungen auf meinen Reisen haben mich erst dazu befähigt, als Minenräumerin zu arbeiten", meint sie. "Im Ausland darf man nicht viel Zeit verlieren, um mit seiner Umgebung klar zu kommen - mit schwierigen klimatischen Bedingungen, Krankheitserregern, einer anderen Mentalität."

Bei Aufenthalten in Somalia und Mosambik wurde sie auf das Elend der Bürgerkriegsflüchtlinge aufmerksam. Die alte Idee der Entwicklungshilfe konkretisierte sich zur Vorstellung, Flüchtlingsnothilfe zu leisten. Der Zufall kam Bohle zu Hilfe: Eines Tages las sie einen Bericht über die Dresdner Sprengschule, die als einziges Institut in Europa zivile Minenräumer ausbildet. "Plötzlich wusste ich: das war es, was ich machen wollte. Minenräumen ist die Voraussetzung, damit Flüchtlinge an ihren Wohnort zurückkehren können."

Dafür gab Bohle ihren Job als Cutterin auf und begann noch einmal bei Null. Sie absolvierte drei Kurse an der Dresdner Sprengschule, paukte Theorie und führte Sprengungen auf ehemaligen russischen Übungsplätzen in Ostdeutschland durch. Nach der Ausbildung kam erst mal die Ernüchterung: Keine der Organisationen, bei denen sie sich bewarb, wollte eine Frau als Minenräumerin einstellen. Nach zwei Jahren hartnäckigen Bewerbens gab die Hilfsorganisation HELP ihr eine Chance und entsandte sie zu ihrem ersten Einsatz ins Kosovo. Der Einsatz verlief so erfolgreich, dass Bohle danach sofort von der Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ) ein Angebot erhielt. Ziel: Mosambik.

Anders als auf ihren Reisen sucht Bohle beim Minenräumen nicht das Abenteuer. Was sie reizt, ist die Atmosphäre in Ländern, die gerade eine Krisensituation hinter sich haben. "Wo die Menschen in einer extremen Aufbruchstimmung sind. Da fühle ich, ich werde gebraucht mit dem, was ich kann."

Stets ist Bohle die einzige Frau im Minenräumteam. Die anderen "Feuerwerker" sind ehemalige Militärs, Fremdenlegionäre und Söldner. Sie alle leben mit dem Bewusstsein, dass immer wieder Unfälle passieren. Doch über Angst kann Bohle mit ihren männlichen Kollegen nicht sprechen, das Thema ist tabu. Oft wünscht Bohle sich deshalb eine Freundin, mit der sie sich abends aussprechen könnte. Bücher sind ihr Ersatz, sie liest viel, um sich nach der Arbeit zu entspannen.

Kosovo, Mosambik, Simbabwe und Afghanistan waren Bohles bisherige Stationen als Minenräumerin. Seit dem ersten Einsatz vor zwei Jahren hat sie ihr Zimmer in Berlin nur für jeweils ein oder zwei Tage zwischen den Einsätzen gesehen, über Weihnachten auch schon mal für eine Woche. "Das Privatleben hat man dann im Einsatzgebiet", sagt sie, "zu Hause bleiben nur die guten Freunde, sonst schläft alles ein."

Mit jedem Einsatz kommen zudem neue Eindrücke hinzu, die sie dem Leben in Deutschland entfremden. "Jedes Mal staune ich mehr. In den Einsatzländern geht es ums blanke Überleben, dagegen erscheinen mir die meisten Probleme der Menschen hierzulande als banal", sagt sie. Bohle hat sich bis zum nächsten Einsatz eine größere Auszeit genommen. Um sich wieder einzuleben. Aber auch um sich von den Strapazen der Arbeit zu erholen: das stundenlange Konzentrieren beim Minenaufspüren, die ständige Umstellung auf ein anderes Klima und anderes Essen - das alles ist körperlich und geistig so belastend, dass Bohle sich nicht vorstellen kann, ein Leben lang Minen zu räumen.

Doch noch ist sie glücklich mit ihren Job. Am 1. Juli beginnt ihr nächster Einsatz; wieder ist es Afghanistan, diesmal wird sie in Kabul stationiert sein. Bohle wird am Handgelenk zwei Glücksarmbänder tragen, die Freunde ihr vor dem ersten Einsatz im Kosovo schenkten. Das eine soll ihr helfen, viele Minen zu finden, das andere dafür sorgen, dass sie wieder mit allen Gliedmaßen nach Hause kommt.

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