Todeswunsch gegen Ehehälfte

Entdeckung Die Schätze Sigmund Freuds sind doch längst gehoben? Nicht alle, die Notizbücher warten noch auf ihre Bergung. Hier ein exklusiver Anfang

"Mein kleines Taschennotizbuch“ nannte Sigmund Freud sein Notizheft, das bequem in seine Rocktasche passte. Die geringe Größe erwies sich vor allem auf Reisen als günstig: Im August 1909 war das Heft dabei, als er im Hafen von Bremen das Dampfschiff sah, das ihn in die Vereinigten Staaten brachte. Er hatte es dabei, als er in New York den Broadway entlanglief, die Niagarafälle besuchte und am Lake Placid einem Stachelschwein begegnete. Insgesamt zehn Notizbücher verwendete Sigmund Freud in den dreizehn Jahren von 1902 – 1915. Alle diese Büchlein hatten mit einer Größe von sieben mal fünf Zentimetern dasselbe handliche Format. Entweder trugen sie einen einfarbig braunen Einband oder ein beigebraunes Muster mit Rosetten und Sonnenkreuzen. Nur ein einziges Mal verwendete Freud ein auffälliges Büchlein. Es zeigte neben einer grünen Ranke die italienische Aufschrift „ricordare e rivivere“. Erinnern und wieder erleben – das erscheint wie ein ironischer Kommentar zur psychoanalytischen Arbeit, die Freud 1914 als ein „Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten“ bezeichnet hat.

Blüten der Unlesbarkeit

Das Notizheft des Gelehrten hatte zu Freuds Zeiten Tradition, und es fällt auf, dass die Notizbücher immer kleiner wurden. So nahm John Lockes Notizbuch aus dem 17. Jahrhundert noch die Größe eines DIN-A4-Blattes ein. In die Adversaria physica schrieb er wissenschaftliche Notizen, Exzerpte, aber auch den Tipp, wo das beste französische Olivenöl zu kaufen war. Die Einträge ordnete Locke nach dem Alphabet und waren fast frei von zeitlichen Markierungen. Diese schwere Kladde mit kalbsledernem Einband lag meist auf dem Schreibtisch des Forschers, für Reisen war sie unpraktisch. Hundert Jahre später nahm der Naturwissenschaftler Horace-Bénédict de Saussure ein nur halb so großes Notizbuch mit sich auf eine Bergtour. Er betitelte es Voyage autour du Mont Blanc en 1774, 10e Juil. Brouillad en crayon No.1. Extraits de l’Agenda. Dieses Notizheft führte im Titel schon das Schreibinstrument auf, das er am meisten verwendete: Erstentwurf mit Bleistift. Die datierten Einträge und die schlechte Handschrift lassen den Schluss zu, dass de Saussure seine Einträge unmittelbar verfasst hat. Fiel ihm auf der holprigen Bergstraße etwas Bemerkenswertes auf, schrieb er seine Beobachtung mit Datum versehen gleich auf.

Freud nun trug 140 Jahre später ein noch kleineres Buch mit sich über den Atlantik nach New York. Auf den Seiten seines Notizheftes vermischte sich Privates mit wissenschaftlichen Beobachtungen. Lektürenotizen, Gedanken oder Adressen notierte er wild durcheinander. Manche Einträge ergeben heute nur Sinn, weil sie eine Überschrift rahmt. Die Liste „Abreise“ beispielsweise zerfiele ohne ihren Titel in zusammenhanglose Einzelteile. Die Seiten des Buches beschrieb Freud mal waagerecht, mal senkrecht. Viel Platz war nicht, so notierte er meist Stichwörter.

Freuds Handschrift war ohnehin schwer lesbar, im Notizbuch trieb sie neue Blüten der Unlesbarkeit. Auch er verwendete meist einen Bleistift, nur vereinzelt zog er Einträge mit Tinte nach. Möglich, dass er einen kleinen Stummel, kaum größer als sein Taschenbuch, immer bei sich hatte. Freud war im öffentlichen Bild darauf bedacht, diszipliniert und bescheiden zu erscheinen. Aus den Notizen lässt sich eine Sorgfalt bei der Übersicht über Einnahmen und Ausgaben herauslesen. In dem Buch aus dem Jahre 1909 finden sich unter anderem die Kosten der Amerikareise. Dreitausend Mark, umgerechnet damals 714,69 Dollar, erhielt er von der Clark University für seine Vortragsreihe zur Psychoanalyse. Sein Taschennotizbuch weist nach, dass er 600 Dollar für die Dampferkarte ausgab. Weitere 140 Mark zahlte Freud für den Transport des Gepäcks und 72 Mark für die Zugfahrkarte nach Bremen, wo das Schiff ablegte. Aber auch die beiläufige psychoanalytische Beobachtung fand Platz. An Bord der George Washington trug er in das Notizbuch ein: „Todeswunsch gegen die Ehehälfte auf Grund kleiner Opfer, Ozean 27.8.09“.

Einige Jahre später bezeichnete er in seinem Essay Unser Verhältnis zum Tode die feindliche Neigung gegen eine geliebte Person als Triebfeder zur Entfaltung des schönsten Liebeslebens. Die Notwendigkeit, den Tod ins Leben zu lassen, weil sein Ausschluss die Menschen lähmte, illustrierte er im gleichen Text mit dem Wahlspruch der Hanse: „Navigare necesse est, vivere non necesse!“ Seefahren muss man, leben muss man nicht.

Fröhlich beim Wein

Alle zwei Minuten heulte die Sirene, als er den Eintrag in seinem Notizbuch verfasste. Bei dichtem Nebel stellte dieser Signalton die einzige Möglichkeit dar, andere Schiffe zu warnen und Zusammenstöße zu verhindern. Freud horchte an dem Tag angespannt aufs Meer angesichts der Schiffsunglücke, die sich im Jahr seiner Reise schon ereignet hatten und gegen die er sein Leben mit 20.000 Mark versicherte. Abgesehen von dieser vom Wetter verursachten Schwankung, verbrachte er gemeinsam mit Carl Gustav Jung und Sándor Ferenczi gute Reisetage. Abends tranken die Männer Wein, selbst Jung gab seine Abstinenz auf, und als das Schiff dann einmal stärker zu schwanken schien, als Freud auf dem Weg in die Kabine war, führte dieser das gut gelaunt auf den Seegang zurück. Fröhlich ist auch das schlichte Gedicht, das er in seinem Notizbuch notierte: „If it’s wet do not fret / if it’s dry do not cry / if it’s cold do not scold /whatever the weather / be happy together.“

Was bedeuteten diese Büchlein für Freud? Im August 1907 erwähnte er eines davon in einem Brief an Jung aus dem Sommerurlaub im Hotel Wolkenstein in Sankt-Christina: „Mein kleines Taschennotizbuch weist nicht eine einzige Eintragung seit vier Wochen auf, so gründlich sind alle intellektuellen Besetzungen entleert.“ Schauen wir uns an, wie lange er die Bücher verwendete, ist keine Regelmäßigkeit auszumachen. Mal schrieb er ein halbes Jahr ein, dann trug er ein Buch beinahe zwei Jahre bei sich. Für Freud waren sie kleine Monitore, die seine Denktätigkeit maßen. Dass die Bücher seine ständigen Begleiter waren, legen die Namen, die er den Einträgen beifügte, nahe: Rom, Ammerwald, „der Ozean“ oder New York. Zu Hause in Wien verfasste Sigmund Freud an seinem Schreibtisch auf losen Blättern in Übergröße seine Manuskripte. Auf das ungewöhnlich großflächige Papier angesprochen, erwiderte er, beim Schreiben Platz und Freiheit zu brauchen. Aber wenn er nicht im Arbeitszimmer saß, sondern draußen, unterwegs oder auf Reisen war, dann verschaffte ihm erst die Hosentaschengröße seines Notizbuches die Unabhängigkeit, sofort aufschreiben zu können, was ihn beschäftigte. Die Bücher zeigen uns nicht nur Freuds Gedanken als Fragmente, sondern helfen, die Umstände, unter denen sie sich formten, zu erfassen. Sie keimten auf engem Raum zwischen Wissenschaft, Praxis und Privatleben.

Sigmund Freuds Taschennotizbücher sind unpubliziert. Er hat sie sicher bis 1915 geführt, vermutlich aber sogar bis 1930. Nach einer Frist von 100 Jahren sind die Bücher gemeinfrei, sie befinden sich in der Library of Congress in Warshington. Rebecca Hoffmann konnte sie im Rahmen eines DAAD-Stipendiums einsehen

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