Die „Lesbian Herstory Archives“ liegen in der Nähe des Prospect Park in Brooklyn. Die Gebäude der Gegend stammen aus dem späten 19. Jahrhundert. Cafés, Bars, gepflegte Grünanlagen. Der Aufgeräumtheit der Verhältnisse widersetzt sich ein kleiner Garten in der 14. Straße, Haus Nummer 484. Hinter der Haustür geht der Widerstand gegen alles Geordnete weiter: Bücher, Papiere, Fahnen und Anstecker türmen sich in den Räumen, Berge von beschrifteten Kisten und Schubern. Mit Ausnahme einer kleinen Kammer, die auf ein Archiv im eigentlichen Sinn einer geordneten Sammlung verweist, ähnelt das Haus einem Dachbodenchaos.
In den aufgeschichteten Dokumenten finden sich Einsendungen aus der ganzen Welt, Lebensgeschichten von Hausfrauen, Prostituierten, Künstlerinnen. Und die Hinterlassenschaften des Gay Liberation Movement, aus dem das Archiv 1974 hervorging. Dazwischen haben Ehrenamtliche Inseln der Ordnung geschaffen. Es gibt Listen, die akribisch über die verwahrten Objekte geführt werden. Probleme der Inventarisierung stellen sich aber nicht nur durch Platzmangel, sondern auch angesichts der Verschiedenheit der Objekte. Die lückenhafte Katalogisierung lässt allerdings Raum für eigene Kartografierungen. Die Besucher des „Lesbian Herstory Archives“ können selbst graben.
Gegen die Familie
In einer der vielen Kisten mit ihren ungezählten Geschichten findet sich der Nachlass von Marge McDonald, einer Angestellten, die ihr Coming-out in den 50er Jahren in traurig-schönen Gedichten verarbeitete. Ihre Texte sind – neben einigen Video- und Tondokumenten aus Oral-History-Projekten – eine der wenigen Quellen, die einen unmittelbaren Eindruck vom lesbischen Leben in der US-amerikanischen Nachkriegsgesellschaft ermöglichen.
Nach ihrem Tod 1986 vermachte sie ihre Tagebücher und Gedichte zusammen mit Tausenden Platten und Büchern dem Archiv. Die Erbschaft fand aber nur in Teilen nach New York, weil die Familie gegen den testamentarischen Willen der Verstorbenen einen Teil der Aufzeichnungen, in denen McDonald über ihre Liebe zu Frauen schrieb, vernichtete. Was von den bisher unveröffentlichten Manuskripten erhalten geblieben ist, erzählt die schwierige Suche einer jungen Frau nach ihrer Identität in einer Midwestern Town. McDonald lebte damals in Columbus im Bundesstaat Ohio.
In New York fanden damals die massenhaft produzierten „Pulps“ als Führer für junge Frauen Verwendung, die einen Zugang in die Lesbenszene suchten. Diese Groschenromane, die oft von Männern als erotisierende Lektüre für Heterosexuelle geschrieben wurden und holzschnittartige Bilder von Homosexualität produzierten, schilderten aber auch das einschlägige Barleben in Greenwich Village mitsamt den realen Treffpunkten.
Außerhalb New Yorks waren diese Hefte zwar auch erhältlich, aber die darin genannten Bars waren unerreichbar. Marge McDonald erzählt in ihrem Tagebuch, wie sie in ihrer Provinzstadt nach nächtelangem ergebnislosen Herumfahren schließlich doch noch eine Gay Bar findet. Weil sie sich allein nicht hineintraut, verabredet sie sich mit einer Freundin, die denkt, It might be fun, über die Begrüßung an der Bar – Here are two new customers – lacht, dann aber doch lieber das nächste Bier woanders trinken will.
McDonald kommt allein wieder. Sie beobachtet die anderen jungen Frauen, die lange Hosen, Hemden und keine Schminke tragen. In ihrem Erscheinungsbild liegt die erste, offen sichtbare Differenz zu den gut frisierten, weißen Mittelstandsmädchen. McDonald, allein und mit 23 Jahren so aufgeregt, dass sie in der Bar zunächst überhaupt niemanden anspricht, drückt sich unsicher herum. Die anderen Frauen vermuten zunächst, sie sei eine Polizistin. Trotzdem bleibt sie, bis die Bar sich leert, und beginnt schließlich doch eine Unterhaltung. Sie redet über Bücher und Musik. Später schreibt sie in ihr Tagebuch, sie habe darüber ganz vergessen, dass sie eine Homosexuelle und jetzt zum ersten Mal unter „ihresgleichen“ sei.
Ihr Tagebucheintrag vom 31. März 1955 liest sich als Initiation. Das Exzeptionelle, Unerhörte von Homosexualität in der damaligen Gesellschaft weicht für einen seltenen Moment der Normalität, und McDonald findet Zugang zu einer Gemeinschaft Gleichgesinnter. Es folgt der erste Kuss mit einer Frau, einer Ex-Marinesoldatin.
Im selben Jahr beginnt McDonald, Gedichte zu schreiben. Ihre Verse sind eine poetische Annäherung an das gesellschaftlich Unerwünschte ihres Verlangens – und zugleich protokollieren sie ihre Versuche, die Zeichen der begehrten Anderen zu lesen. Sie entdeckt die lesbische Barszene, verliebt sich unglücklich und leidet unter Einsamkeit. Sie schreibt über Feiglinge, die flirten, aber, wenn es ernst wird, weglaufen. Oder über Liebesbriefe, die ihr versprochen werden, dann aber nicht eintreffen.
Das lässt sich heilen
Das Gedicht My Love is wrong erzählt von der Unmöglichkeit, aussprechen zu können, wen man liebt, ohne sich damit sofort der gesellschaftlichen Ächtung auszusetzen. In Pale Purple werden die Schwierigkeiten mit sozialen Erwartungen verhandelt: Während sich alle in Schwarz und Weiß kleiden, möchte das lyrische Ich Violett tragen, die Farbe der Frauenbewegung und Symbol für die Gleichstellung der Geschlechter. Aber Violett ist nicht die Farbe der Saison: Pale Purple isn’t right, schreibt McDonald und drückt damit das Gefühl aus, verkehrt in ihrer eigenen Zeit zu sein.
Immer wieder schreibt sie über Verzweiflung und Einsamkeit, die sie sich manchmal selbst auferlegt, weil sie meint, für ihr Begehren büßen zu müssen. Es sind traurige Texte über verlorene Freundschaften und Alleinsein, in denen der Gemütszustand der Autorin auch den zeitlichen und räumlichen Markierungen zu entnehmen ist, die sie den Gedichten beifügt: A lost Night endet mit Sunday – while drunk, Syracus, New York. Das Gedicht My Roommate Marge lässt sich als Betrachtung ihrer eigenen Fassade lesen. Äußerlich angepasst an gesellschaftliche Konventionen, ist nur einigen seltenen Gesten zu entnehmen, dass sie nur vorgibt, ein gewöhnliches Bürgermädchen zu sein.
Wenn einige ihrer Gedichte auch auf allgemein-universeller Ebene die Unsicherheit Verliebter verhandeln, erwähnt McDonald doch immer wieder die Schwierigkeit, in einer Nachkriegskleinstadt der 50er, zwischen Petticoat und Perlon, Räume zu finden, in denen sich eine gleichgeschlechtliche Beziehung leben lässt.
Karrieren lassen sich mit einer offen homosexuellen Beziehung noch lange Zeit nicht aufbauen, selbst Hollywoodstars legen sich den gesellschaftlichen Konventionen entsprechende passende Partner als Fassade zu – wie Rock Hudson, der zum Gefallen von Fans und Studiobossen die lesbische Sekretärin des Agenten heiratete.
Die USA sind im Klammergriff der McCarthy-Ära gefangen, gleichzeitig beginnt die Gay Community zu pulsieren. Homosexuelle bewegen sich zwischen Restriktionen, Verfolgung und allmählichem Sichtbarwerden im öffentlichen Raum, in der Literatur und im Film. Diese Zeit von Verstellungen, Maskierungen und Heuchelei durchzieht auch die immer wieder gestellte Frage, ob Homosexualität sich nicht doch heilen ließe. Ob es nicht am Einzelnen liege, sein Begehren in die gesellschaftlich erwünschte Richtung zu wenden.
Eine neue Zeit beginnt, als die Wut gegen die Repressalien der Obrigkeit sich 1969 in der Greenwich-Village-Bar Stonewall Inn entlädt und die mehrere Tage andauernden Aufstände die Gay-Power-Bewegung begründen. Der meist männlich dominierten Rezeption dieser Bewegung setzen Orte wie die „Lesbian Herstory Archives“ ihre Sammlungen entgegen. Als private, meist unabhängige Initiativen helfen sie seit den 70er Jahren, den Blick zu weiten, und bewahren die Möglichkeit einer anderen Geschichtsschreibung, markiert durch die Differenz eines Buchstabens: Herstory.
Diese Archive verwahren für zukünftige Forscher Historie, die andernfalls verloren ginge. Und sie bewahren die Geschichten von Frauen wie Marge McDonald, die um so etwas wie Normalität in ihrem damals als anders- bis abartig bezeichneten Leben kämpfte.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.