VEB Marmor

Wende Ende der 1980er Jahre entstand in der DDR eine Alternative zur Stonewashed-Jeans. Sie kam zu spät, um das Land zu retten
Ausgabe 42/2019

Auf den Bildern, die sich in das kollektive Gedächtnis der Wende eingeschrieben haben, sticht ein Kleidungsstück hervor, das Ende der achtziger Jahre die DDR erobert hat: die Marmorjeans. Ein Mädchen tänzelt am 9. November 1989 am Grenzübergang in marmorierter Karottenjeans übers Westpflaster. Ein junger Mann, der mit einer Spitzhacke auf die Mauer einschlägt, trägt den Stoff in Form eines wattierten Blousons. Ein älterer Herr mit Elbsegler drängt sich zwischen anderen auf der Mauer – in Marmorjeans, mit seligem Lächeln und Wunderkerze in der Hand.

Das hellblaue Muster der Marmorjeans harmoniert auf seltsame Weise mit dem Bauwerk aus hellgrauem Beton, das in dieser Nacht seiner Funktion entledigt wurde. Der Stoff suggeriert einen Camouflage-Effekt, der im Scheinwerferlicht der Kameras, die den historischen Moment festhalten, umso stärker zu leuchten scheint. Aus heutiger Sicht mutet der Mimikry-Effekt, der sich von der Oberfläche eines italienischen Gesteins inspirieren ließ, paradox an. Demontierten ihre Träger doch ausgerechnet ein als unzerstörbar geltendes Gebilde aus Stein.

Stärker als die SED

Ende der sechziger Jahre erfunden von Surfern, die ihre Jeans im kalifornischen Sand wuschen und von der Sonne ausbleichen ließen, eroberte die Stonewashed-Jeans im letzten Lebensjahr der Republik den DDR-Markt. Bis in die 1960er Jahre als dekadente Amihose verpönt, waren Jeans von jeher als Symbol stilvollen Protests begehrt. Schüler wurden aus dem Unterricht entlassen und zum Umziehen nach Hause geschickt.

Gegen die Popularität der amerikanischen Arbeiter- und Cowboy-Hose kam die SED jedoch nicht an. Im Rahmen wirtschaftlicher und kultureller Liberalisierung wurden Jeans in den 1970er Jahren in die volkseigene Produktion aufgenommen. Im unmittelbaren Vergleich zwischen West- und Ostjeans schnitt die DDR-Produktion bei der eigenen Bevölkerung schlecht ab. Neben dem brettharten Stoff wurde bemängelt, dass sich die Jeans nicht nach einigen Wäschen entfärbten wie ihre westlichen Vorbilder. Der Dramatiker Ulrich Plenzdorf ließ 1973 in seinem Stück Die neuen Leiden des jungen W. seinen jugendlichen Protagonisten auf offener Bühne eine Ode an „echte“ Levi’s singen.

Waren Stoff, Farbe und Passform schon an sich eine Herausforderung für die volkseigenen Betriebe, die ihr Plansoll nur durch Massenproduktion erfüllen konnten und daher Innovationen scheuten, potenzierten sich die Probleme bei kostenintensiven Veredelungstechniken.

Seit Beginn der 1980er Jahre wurden Jeans im Westen eigentlich nur noch vorgewaschen verkauft. Kleine Firmen wie Guess Inc. entwickelten eigene Waschverfahren, um sich im saturierten Jeansmarkt eine Nische zu erobern. Sie bedienten sich bei den modischen Experimenten der Jugendkulturen. Nach den kalifornischen Surfern hatten Punks und Skins in den siebziger Jahren zu radikaleren Methoden gegriffen und ihre Jeans in Chlorbädern der Zersetzungsgefahr ausgesetzt. In der DDR, wo neue Westjeans sogar von Punks mit höchster Behutsamkeit behandelt wurden, ein unerhörter Vorgang.

Im Kapitalismus wurde diese Mode mit Bimssteinen und Zellulase-Enzymen schnell kommerzialisiert und zum Massenprodukt für die Braven. Was im Westfernsehen längst alle bewundern konnten, kam Anfang der 80er in die DDR. Die Jeans waren schwer zu haben; außer im Intershop, wo DDR-Bürger mit Forumschecks Westwaren kaufen konnten, bekam man sie im Grunde nur aus dem Westpaket. Im Exquisit-Laden wurden neben Westimporten aufwendige Kleinserien aus sozialistischen Konfektionsbetrieben zu hohen Preisen angeboten. Jeans konnten 250 Mark kosten, ein Viertel des durchschnittlichen Monatseinkommens. Weil modische Kleidung bis zum Ende der DDR Mangelware blieb, griffen viele tief in die Tasche.

Marmorjeans wurden mit Turnschuhen und T-Shirt kombiniert, sie galten als das Aushängeschild der Popper, einer Kultur, die die bürgerliche Jugend im Westen genauso begeisterte wie die sozialistische Mittelschicht im Osten. Vorbilder waren Boybands wie Bros und Wham, deren Poster neben Silly und Rockhaus an den Wänden hingen. Es waren nicht die äußerlich Auffälligen, schon durch ihren Kleidungsstil Unangepassten, die Marmorjeans trugen. Nicht die Hippies, Punks oder New Waver, die sich in zerfetzten Klamotten oder toupierten Haaren auf die Straße trauten und riskierten, als „asozial“ zu gelten.

Marmorjeans waren für Normalos, die auch in der DDR den privaten Konsum für sich entdeckt hatten. Die staatlichen Modeinstitutionen drängten darauf, diese „Moon- bzw. Snow- oder Diamond-Wash“ nicht zu verpassen, die eigenen Marken verkauften sich immer schlechter. Ende der achtziger Jahre stammten etwa 40 Prozent der von Jugendlichen erworbenen Jeans aus dem kapitalistischen Ausland. Den volkseigenen Betrieben fehlten die notwendigen Waschanlagen. So mussten viele Stonewashed-Jeans made in DDR aufwendig in holländischen Spezialwäschereien gewaschen werden, was zusätzlich seltene Devisen kostete.

Das änderte sich im Frühjahr 1988, da nahm das Kombinat Oberbekleidung Berlin in Zusammenarbeit mit dem VEB Rewatex den Probebetrieb einer eigenen Jeans-Waschanlage auf. Im Sommer 1988 schaffte man monatlich 50.000 Stück. Marmorjeans lagen jetzt im Centrum-Warenhaus oder in den Jugendmode-Geschäften. Der Bedarf war riesig. In der Ostberliner Jugendmode-Verkaufsstelle an der Karl-Marx-Allee, deren Verkäuferinnen harsche Kritik frustrierter Kunden gewohnt waren, gingen an zwei Tagen 800 „Schnee“-Jeans über die Theke.

Dass vor allen Dingen die großen Städte mit der Jeans beliefert wurden, war typisch, so Ina Krauß, damals beim Amt für industrielle Formgestaltung für die „Arbeitsgruppe Jeans“ zuständig. „Es ist wie überall auf der Welt gewesen: Der ländliche Raum hat die modischen Artikel immer etwas später oder gar nicht bekommen, die Städter eher. Und wer sie einmal hatte, hat sie getragen und getragen und getragen ...“

Die Umsatzerfolge im Handel beeindruckten auch den Minister für Leichtindustrie. Der beantragte im April 1989 bei der Staatlichen Plankommission den Kauf einer Stonewash-Anlage für gut 80 Millionen Valuta-Mark. Standort sollte das mecklenburgische Plau am See sein. Den republikweiten Bedarf schätzte er auf acht Millionen Stück im Jahr. Damit hätte sich jeder zweite DDR-Bürger 1990 eine Marmorjeans kaufen können. Bei einem Verkaufspreis von 155 bis 220 Mark wären die Investitionen schnell wieder drin gewesen. „Die Ökonomie ist außerordentlich günstig“, so der Minister. Devisenverwalter Schalck-Golodkowski lehnte ab. Er glaubte nicht mehr daran, dass sich die marode Textilproduktion der DDR mit Marmorjeans retten lassen würde. Ein halbes Jahr später machte sich der Koko-Chef Richtung Westen aus dem Staub.

Rebecca Menzel veröffentlichte das Buch Jeans in der DDR. Vom tieferen Sinn einer Freizeithose (Ch. Links Verlag 2004)

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Dieser Beitrag ist Teil unserer Wende-Serie 1989 – Jetzt!

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