Tallinn statt Templin

Mobilität Was ist dran an der Idee der Bundesregierung, den ÖPNV zum Nulltarif anzubieten?
Bald schon Geschichte?
Bald schon Geschichte?

Foto: Christian Schroth/Imago

„Da hat es sich ja richtig gelohnt, ein Ticket zu kaufen“, ruft die Frau in der Bahn fröhlich aus, als sich der Kontrolleur erkennbar zeigt. Ein kritischer Blick auf den Fahrschein unterbricht den anfänglichen Enthusiasmus jedoch abrupt. Falsch abgestempelt sei er. „Ich hätte doch mit dem Auto fahren sollen“, murmelt sie noch, als sie mit dem Kontrolleur an der nächsten Haltestelle auf den Bahnsteig tritt.

Szenen wie diese soll es in Zukunft nicht mehr geben. Bußgelder und vor allem bezahlte Tickets sollen abgeschafft, der kostenlose Nahverkehr für alle in einigen deutschen Städte getestet werden. Dass die Idee ausgerechnet jetzt von der Bundesregierung geäußert wird, ist jedoch nicht der Erkenntnis zu verdanken, es könne sich um ein sinnvolles Modell handeln, sondern vielmehr dem Druck der EU-Kommission geschuldet. Um einer Klage zu entgehen, soll die Luftverschmutzung merkbar reduziert und die Luftqualität in Städten dadurch verbessert werden – mit dem ÖPNV zum Nulltarif. Erzwungene Maßnahme hin oder her, ist das wirklich umsetzbar?

Klar, die Idee ist nachvollziehbar. Wird Bus- und Bahnfahren kostenlos, steigen mehr Menschen vom Auto auf die Öffentlichen um, um den Geldbeuten zu schonen. Die Umwelt wird entlastet. Für die Stadt klingt das plausibel, doch was ist mit ländlichen Gebieten, in denen das Verkehrsnetz nicht dicht genug ist, um eine echte Alternative zum Auto zu bieten? Zum Arbeitsplatz in der Stadt müsste dennoch mit dem Auto gependelt werden. Im Umkehrschluss bedeutet das, dass das gesamte Nahverkehrsnetz ausgebaut werden müsste. Was das wohl kosten mag und wer dafür aufkommen soll? Die Frage schiebt man lieber erst einmal beiseite. Immerhin würden jährlich etwa 12 Milliarden Euro wegfallen, die die Verkehrsbetriebe durch den Ticketverkauf einnehmen.

Zugegeben, ganz unbedacht kann der finanzielle Aspekt dann aber doch nicht gelassen werden. Schließlich führte er dazu, dass der Testlauf im Brandenburgischen Templin missglückte. Dort wurde die Möglichkeit des kostenfreien Fahrens so dankend angenommen, dass die Passagierzahlen auf das zehnfache stiegen, die Busse und Bahnen platzten aus allen Nähten. Auch in Seattle und im belgischen Hasselt gab es Finanzierungsprobleme, der steigenden Nachfrage konnte nicht nachgekommen werden. Soll die Umsetzung gelingen, müsste sich Deutschland schon an Estlands Hauptstadt Tallinn orientieren, wo bereits 2013 Fahrstreifen zu Busspuren umgebaut wurden. Die Anwohner sind seitdem kostenfrei mit den öffentlichen in der Stadt unterwegs, was viele auch zum Wohnen nach Tallinn gelockt hat.

In überlasteten Städten könnte der freiwerdende Raum wieder effektiver genutzt werden, wenn selbstständig auf Autos verzichtet wird. Bei Einführung eines kompletten PKW-Fahrverbots in Innenstädten würde die Autolobby und mit ihr Teile des autoaffinen Landes jedoch auf die Barrikaden gehen. Realistischer und trotzdem wirkungsvoll wäre es, zu allererst einmal die Subventionen für Diesel herunterzufahren oder Parkkosten anzuheben, um Autofahren an sich teurer zu gestalten. Das schafft Anreize, auf öffentliche Verkehrsmittel umzusteigen. Zudem könnte der Ausbau des Nahverkehrsnetzes dadurch finanziert werden.

Die Frage hingegen, ob durch den kostenlosen ÖPNV eine ungesunde Lebensweise gefördert wird, muss jede und jeder für sich selbst beantworten. Schließlich muss nicht alles genutzt werden, nur weil es nichts kostet. Für die Umwelt und damit die Luftqualität sind Radfahren oder Laufen immer noch am förderlichsten.

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