Unbeschwert am Meer

Kindheitsblick Das Rumänien der 80er Jahre war ein privater Ort in Ilinca Florians Debüt
Ausgabe 10/2018

Was ist der Westen, wo beginnt er und wo hört er wieder auf? Bezeichnen Westen und Osten Gegensätzliches an sich? Was meint Heimat? Die Fragen um die beiden diffusen Begriffe teilen die Welt anhand des vermeintlich simplen Schemas zweier Pole. Da ist das fremde, unbekannte, verheißungsvolle „Dort“, der sogenannte Westen, da ist das bekannte „Hier“. Die Fragen durchziehen Ilinca Florians Als wir das Lügen lernten wie dünne, durchsichtige Fäden, sie beschäftigen vor allem die junge Ich-Erzählerin.

„Ich mag das Hier sehr, frage mich aber oft, wie es dort sein mag“, rätselt die kindliche Hauptperson gleich zu Beginn des Romans, während sie mit ihrer Familie zurück in die Stadt fährt. Bukarest erscheint ihr nach den am Schwarzen Meer verbrachten Sommerferien grau und trist. Im Ankommen in der Mietwohnung in Rumäniens Hauptstadt, im Hier, zeigt sich der Kontrast zwischen ländlicher, sorgenfreier Urlaubsidylle und lärmender Großstadt, zwischen Freiheit und Zwang, zwischen Wassermelone und Polenta und zwischen täglichen Badegängen und der Tatsache, dass der „böse Staatsmann“ wieder einmal das Gas abgestellt hat.

Nach und nach zeichnet die junge Protagonistin ein Bild des sozialistischen Alltags im Rumänien der 80er Jahre. Damit nähert sich die 1983 in Bukarest geborene Florian dem Gastgeberland der Leipziger Buchmesse in ihrem Debüt einfühlsam, mit leiser Poesie. Die aufmerksamen, auf vermeintliche Kleinigkeiten gerichteten Augen der Ich-Erzählerin beobachten die Umwelt mit zuweilen heiterem Scharfsinn, zugleich mit dem unbedarften Blick einer jungen Erwachsenen.

Statt Erörterungen der politischen Situation des Landes steht die Entwicklung der Charaktere im Vordergrund des Geschehens. Im familiären Kontext entstehende Dialoge nehmen den Raum ein. Es ist ein mittelständisches Familienleben: Vater, Mutter, Kinder. So entwirft Florian über die emotionale Ebene persönlich wahrgenommener Eindrücke ein sehr privates Bild Rumäniens kurz vor dem Zusammenbruch des Ceausescu-Regimes. Durch die „Sparmaßnahmen des großen Chefs“ kann einmal zeitweise nicht warm gebadet werden und die Lebensmittelrationierung macht sich beim Gang zum Markt bemerkbar. Korruption, eingeschränkte Meinungsäußerung, Flucht – für vieles bedarf es keiner direkten Nennung, es reicht die Beschreibung der täglichen Widrigkeiten und Schikanen, um das System dahinter zu zeigen.

Ein lauter Knall, eine unvorhergesehene Katastrophe bleiben aber aus. Stattdessen entstehen durch den Wunsch des Vaters, nicht mehr in einem Land leben zu wollen, „in dem du ins Gefängnis gesteckt wirst, weil du Karikaturen vom Staatschef zeichnest“, Risse an der Oberfläche des Familiengeflechts, die nur die aufgeweckte Protagonistin entdeckt. Risse, die die Macht haben, Beziehungen zu sprengen, indem sie sich zu unüberbrückbaren Schluchten ausweiten und einen vor die Frage stellen, was wichtiger ist: der Wunsch, dem Versprechen des fremden Dort zu folgen, um dem Hier zu entkommen, oder die Hoffnung, sich bald wieder uneingeschränkt in der Heimat bewegen zu dürfen.

Zeitgleich zum Zerfall des verarmten Rumänien bröckelt die Beziehung zwischen Vater und Mutter, während die Hauptperson und ihr Bruder abgeschirmt und weitestgehend über die Zukunft in Unkenntnis gelassen werden – was auch dazu führt, dass bedeutsame geschichtliche Themen nur angerissen, aber nicht ausgeführt werden, die der erwachsene Leser ja aber leicht nachlesen kann.

Die im Titel genannten „Lügen“ haben demnach mehrere Bedeutungen im Roman. Das Verschweigen steht für die Lüge im Privaten, im ideellen Kontext ist es der arglose Blick der Erzählerin, in der Politik das geschickte Formulieren.

Info

Ilinca Florian Als wir das Lügen lernten Karl Rauch Verlag 2018, 192 S., 20 €

Die Bilder des Spezials

Zuerst ist da ein leeres weißes Blatt Papier mit unendlichen Möglichkeiten, bald findet sich darauf eine absurde Welt der Abstraktion. Zu sehen sind fiktive Gebäude, unendliche Tunnel, lauernde Treppen. Es gibt rätselhafte Hinweise. Nur: Nie führen diese zur Auflösung des Rätsels.

Die Illustratorin Pia-Mélissa Laroche, Jahrgang 1985, zeichnet surreale Welten. Sie will die Macht der Suggestion hinterfragen. Sie sagt: „Wie die Krypten der christlichen Kirchen oder Nabateans Gräber sind diese architektonischen Strukturen direkt in den Boden gehauen. Sie drängen sich durch Subtraktion auf, um unzerstörbar und mehr als je zuvor zu werden. Mit einer extremen Haltbarkeit trotzen die ,Hyper Residenezen‘ Zeit und Raum.“ Laroche lebt und arbeitet in Paris.

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