Arbeitslosigkeit ist menschlich

Erwerbslosen-Stigma Wie das soziale Umfeld Jobsuchende unterstützen, ihnen aber auch massiv schaden kann. Ein Plädoyer für mehr Empathie

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Warten auf eine Chance: Arbeitslose in Valencia
Warten auf eine Chance: Arbeitslose in Valencia

Foto: David Ramos/ AFP/ Getty Images

Der frisch eingewanderte Kinderarzt aus einem Entwicklungsland, der Schulabgänger mit Lese-Rechtschreib-Schwäche, die Gymnasiastin, die Verlagskauffrau werden möchte, der promovierte Chemiker, der Bankangestellte in befristeten Verhältnissen und die Absolventin eines geisteswissenschaftlichen Studiengangs haben mehr gemeinsam, als man denkt. Niemand von ihnen hat eine absolute Sicherheit, auf dem Arbeitsmarkt eine Punktlandung hinzulegen. Oder andersherum argumentiert: Arbeitslosigkeit und Jobverlust können jeden treffen. Ein Umstand, der zwar inzwischen immer deutlicher zutage tritt, jedoch ständig verdrängt wird: durch geschönte Zahlen, utopische Versprechen der Wirtschaft, ein stetig wachsendes Angebot an Weiterbildungs- und Coaching-Maßnahmen, damit der Einzelne sich noch passgenauer in die Schablonen des Marktes pressen kann.

Würde Foucault noch unter uns weilen, hätte er vermutlich seine helle Freude daran, wie genau seine Theorien über „Ratgeberkultur“, Gouvernementalität und Neoliberalismus gut 20 Jahre nach seinem Ableben in der westlichen Gesellschaft aufgehen, in einer Kultur des Selbstsorge- und Optimierungskultes. Im „Rat geben“ sind im Grunde alle gut, die das Problem der Arbeitslosigkeit beziehungsweise beruflichen Neuorientierung gerade nicht betrifft. Egal, ob sie vom Fach sind oder nicht, die Werte und Absichten des betroffenen Individuums kennen oder nicht. Oder, um noch einmal mit Foucault zu sprechen: Wer die Macht des arbeitenden „Konsens“ vertritt, bekommt scheinbar das Recht zugesprochen, jegliches Urteil über diejenigen zu fällen, die aus der (Lohnarbeits-)Norm fallen. Sicherlich ist es durchaus sinnvoll, qualifiziert und nach gründlicher Vorüberlegung Vorschläge und Anregungen anzubringen. Dem Arbeitssuchenden allerdings bewusst oder unbewusst jegliche Wissens- und Entscheidungskompetenz abzusprechen, degradiert ihn jedoch und verletzt ihn in seiner Würde. So, als wäre er nur etwas wert, wenn er gerade einen laufenden Arbeitsvertrag hätte.

Wer einem Mitmenschen in Phasen der Unsicherheit und Neuorientierung ständig zu nahe tritt und – berechtigt oder nicht - sowieso alles „besser“ weiß, befreit ihn keinesfalls von seinen Zweifeln, Ängsten und Hemmungen, sondern läuft Gefahr, all dies noch zu verstärken und die Situation zu „verschlimmbessern“. Wie also am besten mit „verlorenen Schafen“ in einer von Arbeitseifer geleiteten Herde umgehen? Das Zauberwort lautet Respekt. Beispiele einer vergessenen Empathie.

Der Einstellungsstatus eines Menschen bestimmt nicht seinen Wert. Ein Mensch wird nicht prinzipiell „besser“ oder „schlechter“, „faul“ oder „fleißig“, „schlau“ oder „dumm“, nur weil er entweder die für ihn passende Arbeitsstelle hat oder nicht.

Beispiel: Der arbeitslose oder prekär beschäftigte Historiker, der ehrenamtlich oder zu einem Hungerlohn für ein Online-Magazin schreibt, ist nicht per se weniger fleißig als der Beamte beim Finanzamt.

Der Jobsuchende weiß selbst am besten, was zu ihm passt. Auch, wenn der allmächtige Markt von der eierlegenden Wollmilchsau ausgeht, von der unbegrenzten Weiterentwicklung und Flexibilität eines jeden (potenziellen) Arbeitnehmers… Nein, es kann eben nicht jeder Altenpfleger werden. Nicht jeder kann tagtäglich mit einem Zahnpasta-Lächeln an einem Counter sitzen, in Windeseile Bilanzen berechnen oder vor Schulklassen stehen. Es gilt: Jeder Mensch ist sich selbst der Nächste und kennt sich und seine Kompetenzen deswegen am besten.

Beispiel: Obwohl der ehemalige Laborassistent mit dem sehr guten Schulabschluss Freude an Chemie hat, eignet er sich vielleicht nicht zum Chemielehrer, weil die Arbeit mit Jugendlichen nicht in seinem Interesse ist.

Auch für Arbeitslose gilt §1 des Grundgesetzes. Niemand hat das Recht, jemanden aufgrund seines Arbeitsmarktstatus zu verurteilen, ihn als „Minderleister“, „faulen Sack“ oder „Schmarotzer“ zu bezeichnen. Natürlich ist „arbeitssuchend“ kein Glorienstatus und (selbst gewählte) Arbeitslosigkeit soll nicht auf ein Podest gehoben werden. Es handelt sich um ein Plädoyer für einen Umgang auf Augenhöhe.

Beispiel: Wer kann schon auf einen Blick beurteilen, wie sehr sich eine Person bemüht, im Kampf gegen (Wirtschafts-)Windmühlen einen unerwarteten Sieg zu erringen? Natürlich, es gibt immer schwarze Schafe, aber Ausnahmen bestätigen bekanntlich die Regel. Weiterhin sollte das Ehrenamt nicht wegen der geringen Vergütung ständig „entehrt“ werden.

Jeder Mensch hat das Recht auf freie Entscheidung und Meinungsäußerung. Im Endeffekt kann und sollte jeder Ratschläge seiner Umwelt anhören, sofern sie nicht in Fremdbestimmung ausarten. Die Entscheidung, wie man mit dem Feedback der Umwelt umgeht, liegt aber immer noch beim Individuum. Auch Arbeitssuchende haben das Recht, ihr Leben selbst zu bestimmen, Fehler zu machen, Entscheidungen zu überdenken, ihre Meinung zu äußern und zu ändern und Bevormundung abzulehnen. Traurig, dass man an solche Selbstverständlichkeiten in Zeiten von Hartz IV-Sanktionen noch erinnern muss.

Beispiel: Eine Absolventin der Germanistik wird ununterbrochen von ihrer Umwelt dazu gedrängt, sich marktbedingt komplett neu in Richtung Betriebswirtschaft oder Mathematik (was sie nie gut konnte oder auch nur interessant fand) zu orientieren. Sie hat das Recht dazu, auch Ratschläge zu verwerfen und ihrer gewählten Ausbildung treu zu bleiben.

Im Zweifel für den Benachteiligten. Es ist ein weitreichender Irrtum, jeder Erwerbslose sei unfähig, sich in den Arbeitsmarkt zu integrieren und auf irgendeine Weise also „selbst schuld“. Man hätte ja entgegen seinen Talenten einen anderen Ausbildungs- und Studienschwerpunkt wählen können und diese oder jene Fähigkeit deutlicher ausbauen müssen. Vorwürfe und realitätsferne Empfehlungen bringen nichts, außer dass sie einen Menschen, der sowieso bereits mit seinem Leben hadert, noch weiter verunsichern.

Beispiel: Nach seiner Ausbildung zum Elektroingenieur wird ein junger Mann aus betriebsbedingten Gründen nicht übernommen. Er findet danach lange keine Stelle, weil der Markt übersättigt ist. Seine Familie wirft ihm trotzdem ständig vor, er hätte sich doch lieber zum IT-Spezialisten ausbilden lassen oder direkt ein Studium zum Maschinenbauer beginnen sollen. Dabei liegt die „Schuld“ für die Arbeitslosigkeit gar nicht bei ihm, wenn man überhaupt diesen Begriff verwenden möchte.

Erwerbslose können unproduktive Phasen und Zeiten der Schwäche haben. Mit dem Stigma „Arbeitsloser“ scheint hierzulande auch das Recht zu schwinden, einen schlechten Tag, eine Frustwoche oder einen Monat der Selbstorientierung haben zu „dürfen“. Dabei bringt blinder Aktionismus ebenso wenig wie die absolute Resignation. Auch Arbeitssuchenden stehen weiterhin Erholungszeiten zu, ohne, dass sie dafür als „faul“ und „nutzlos“ gebrandmarkt werden.

Beispiel: Eine einst sehr motivierte Berufseinsteigerin im Medienwesen fühlt sich durch befristete, unsichere Projektjobs und dazwischen liegende Zeiten ohne Erwerbstätigkeit psychisch ausgebrannt und braucht Ruhe und Zeit, sich neu zu orientieren und zu einer nachhaltigen Entscheidung zu finden. Hierbei sollte sie allerdings weder von ihrer Familie, noch von der Arbeitsagentur die Pflicht auferlegt bekommen, jeden Tag weiter Bewerbungen zu schreiben, egal, ob es etwas nützt.

Respekt bedeutet also einfach, Personen in Phasen der Neuorientierung und Erwerbslosigkeit zu unterstützen, aber nicht zu drängen, Ratschläge zu geben, aber Spielraum für Entscheidungen und persönliche Grenzen zu lassen. Kurz: So mit einem nicht erwerbstätigen Mitmenschen umzugehen, wie man es auch mit anderen tun würde. Schließlich ist auch Arbeitslosigkeit nur menschlich.

Anna Katherina Ibeling

Michel Foucault (1926-1984), mehrmals im Text zitiert, war ein französischer Soziologe und Kulturtheoretiker. Er entwickelte eine für seine Zeit fortschrittliche Macht-und Diskurstheorie, in der Macht als dynamisches Netzwerk in Verbindung mit Wissens- und Diskursstrukturen betrachtet wird. Zwei seiner wichtigsten Begriffe sind "Gouvernementalität", die subtile Lenkung des Individuums durch begleitende "Führung zur Selbstführung", und "Neoliberalismus", die indirekte Beeinflussung des Staatsgeschehens durch die Wirtschaft.

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Geschrieben von

rebelcat86

- Master of Desaster ...äh Arts in Komparatistik - Kind der "Generation Praktikum" - Ironie on!

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