Das ewige Drama um die Fertilitätsrate

Zahlen, bitte! Kaum ein Thema wird so kontrovers diskutiert wie die zunehmende Kinderlosigkeit in Deutschland. Doch Polemik ist fehl am Platz.

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Statistiken über die sinkende Geburtenraten in Deutschland treiben Experten der Demographie und zahlreichen Angehörigen vorangegangener Generationen sprichwörtlich Angstschweiß auf die Stirn. Tatsächlich ist die zunehmende Kinderlosigkeit der heutigen jungen Erwachsenen ein reales Problem für die Zukunft des deutschen Sozialstaats, der nach wie vor auf der Institution des Generationenvertrags fußt. Sie ist keine Chimäre, keine Erfindung paranoider Statistiker. Je mehr die Bevölkerungspyramide sich verschiebt, also die Sterbe- und Geburtenrate auseinanderklaffen, desto wahrscheinlicher wird auf lange Sicht der Kollaps des momentan existierenden Gesundheits- und Rentensystems. Fast ein Viertel aller deutschen Frauen bleiben derzeit kinderlos. Da drängt sich die Frage nach den Gründen auf. Fast noch interessanter erscheint jedoch die Suche nach neuen Lösungswegen.

Eine Statistik aus dem Jahr 2011 legt zunächst einen großen Freiheitsdrang und das Bedürfnis nach Unabhängigkeit offen, die viele Deutsche nach Meinung von 60% aller Befragten daran hindern, eine eigene Familie zu gründen. Kinder als immenser Kostenfaktor (58%) und der Karrierewunsch von Männern und Frauen (51%) folgen auf dem Fuße. Karriere und Kinder lassen sich im bestehenden System – besonders für junge Mütter und Väter – oftmals schlecht miteinander kombinieren (48%). Weitere wichtige Gründe sind fehlendes Vertrauen in Staat und Gesellschaft und Ängste, einem Kind keine sichere Zukunft bieten zu können (je 46%). Auch das Fehlen eines passenden Partners (39%) und die Furcht, mit einem Kind allein dazustehen (20%) stellen Hemmnisse dar. Denn wirklich ohne Kinderwunsch sind nach der vorliegenden Statistik von 2011 offenkundig nur 21%. Vermutlich kann die Aussage von 23% aller Befragten hier als Fazit gelten: „Es ist nie der richtige Zeitpunkt für Kinder.“

Also alles nur eine Sache des Timings? Seit 2011 hat sich in der Familienpolitik Deutschlands eine Menge getan: Kita-Plätze wurden verstärkt geschaffen, für aus dem Beruf ausscheidende Elternteile das Elterngeld beschlossen, Bildungspakte beschlossen, ein verstärktes Augenmerk auf die jungen kommenden Generationen des Landes gerichtet.

So rutschte das Kostenargument 2012 laut einer Umfrage im Auftrag des Bundesfamilienministeriums immerhin auf 24% aller befragten Kinderlosen mit Kinderwunsch ab, eine Unvereinbarkeit von Familie und Beruf ist nur in 26% aller Fälle der Grund für einen Verzicht auf eigene Kinder. Auch Schwierigkeiten bei der Betreuung stellen nur für 11% aller Befragten einen Hinderungsgrund dar. Strukturelle Gründe treten also gegenüber persönlichen Argumenten scheinbar in den Hintergrund. 49% fühlen sich „zu jung“, um eine Familie zu gründen, immerhin 46% fehlt der richtige Partner hierfür. Insgesamt scheint das größte Hemmnis inzwischen tatsächlich das Timing zu sein – die Kunst, seine Zeit zwischen Familie, Freunden, Hobbys und Beruf aufzuteilen. Freiraum für eigene Interessen und Beschäftigungen nennen 36% aller Befragten Kinderlosen als Grund, 17% fürchten, einem Kind nicht genug Zeit widmen zu können. Sind wir Deutschen also Versager des Zeitmanagements, oder, schlimmer, Egoisten, die keine Verantwortung übernehmen wollen? Nicht unbedingt. Ein weiterer Grund für den Verzicht auf Kinder ist die Unsicherheit über die eigene Zukunft (34%) - eine ungewisse Zukunft lässt sich auch ohne Nachwuchs schlecht planen, mit familiärer Bindung noch viel schlechter. Sind die äußeren strukturellen Verhältnisse also doch entscheidender, als aus dieser neueren Statistik ersichtlich wird?

So wird in einem Artikel der Nachrichtenagentur rp online die „Verunsicherung des flexiblen Menschen“ thematisiert. Demnach wird ein Kinderwunsch durch drei Grundfaktoren bestimmt, sinnbildliche Säulen der Absicherung: eine gute Ausbildung, eine sichere Arbeitsstelle abseits prekärer Verhältnisse und eine stabile Partnerschaft. Entscheidungen gegen ein oder mehrere Kinder fallen oft nicht aus festen Prinzipien heraus, sondern aus persönlichen Lebenswegen, die auch immer ein „Abbild der sozialen Verhältnisse darstellen“. Sind eine oder mehrere der drei Bedingungen nicht gegeben, wird der bestehende Kinderwunsch vieler potentieller Eltern zurückgestellt oder aus Angst vor finanzieller Armut und existentieller oder sozialer Unsicherheit ganz auf Eis gelegt. Gerade berufliche Einschränkungen schrecken nach wie vor junge Frauen mit umfassender Ausbildung ab, auch in Anbetracht eines sich immer dynamischer entwickelnden Arbeitsmarkts. Von den bestehenden Müttern von Kindern unter drei Jahren war beispielsweise nur jede Dritte überhaupt erwerbstätig, während sich der hohe Anteil von Vätern in Vollzeitarbeit 2012 kaum veränderte. Größtenteils tappen auch danach viele Mütter in die Teilzeitfalle, wo ihre Karrierechancen weiterhin begrenzt bleiben. Der deutsche Arbeitsmarkt will den flexiblen Menschen: jung, dynamisch, örtlich ungebunden, ständig auf dem Sprung, bereit, keine Forderungen nach Festanstellung zu äußern. Kinder? Stehen nur im (Karriere-)Weg. Da Männer oft noch mehr verdienen als ihre Kolleginnen, ist die Frage nach der Kinderzuständigkeit damit auch eine wirtschaftliche. Als „Opportunitätskosten“ bezeichnet der Pädagoge Prof. Dr. Wolf-Dieter Scholz die externen Faktoren, die den Grad des Kinderwunsches („Value of Child“) negativ beeinflussen. Diese können Scholz zufolge auf der partnerschaftlichen und beruflichen Ebene bestehen, aber auch die hohe Erwartungshaltung an heutige Eltern und generalisierte Zukunftsängste reflektieren. Ein weiterer sehr wichtiger Faktor ist Zeit. Auch wenn 84% aller Befragten in Scholz' Studie einer Lebensbereicherung durch eigene Kinder zustimmen, liegen Zeitmangel und Versagensangst mit 41% und 43% als Begründung für Kinderlosigkeit an der Spitze.

Auch das Familienministerium räumte in einer Erhebung von 2012 ein, dass 73% aller Eltern in Deutschland die Zeit mit ihrem Nachwuchs als zu knapp empfänden. Immerhin: Trotz des gestiegenen Alters von Müttern bei der ersten Geburt, nämlich oftmals jenseits der 30, werden in der vorliegenden Studie eine Stagnation des Rückgangs und eine steigende Bereitschaft zur Familiengründung festgestellt, selbst bei denen als kinderlos verschrieenen Akademikern und Akademikerinnen. Immerhin – ein positiver Trend für besorgte Statistiker. Zeit für ein Fazit dieses vergleichenden Ausflugs in die Welt der empirischen Erhebungen.

Nur ein geringer Teil der Kinderlosen ist es demnach aus Überzeugung oder genereller Ablehnung von Elternschaft heraus. Für rund drei Viertel aller verbleibenden Betroffenen überwiegt mindestens ein Faktor der sogenannten „Opportunitätskosten“ gegenüber dem Bedürfnis, den Wunsch nach einer eigenen Familie in die Tat umzusetzen. Dies führt zu einer zeitlich aufgeschobenen oder ganz ausbleibenden Elternschaft. Sind eine oder mehrere der drei Grundsäulen für die Realisierung des Kinderwunsches – nämlich die partnerschaftlich soziale, die generell absichernde oder die beruflich-karrieristische Bedingung – nicht erfüllt, beeinflusst dies die Familienplanung in negativer Weise. Vor allem individuelle Zukunftsängste, gestiegene Ansprüche an Eltern und gefühlter Zeitmangel liegen hier ganz vorne. Insgesamt vermerkt das Ministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend jedoch einen positiven Trend respektive der aktuellen Bevölkerungsentwicklung. Schließlich ist es ja auch nicht so, dass sich nicht gekümmert würde. Auch wenn es sicherlich keinen einheitlichen Königsweg zu einer kinderfreundlicheren Sozialstruktur gibt und für Politiker, Ökonomen und potentielle Familiengründer selbst noch ein hoher Nachholbedarf besteht, ist das vermeintliche Drama um Deutschlands Demographie möglicherweise nicht ganz so dramatisch. Gemäß dem Baumarkt-Motto: „Es gibt immer was zu tun!“. Es wäre ja auch langweilig, wenn nicht.

Anna Katherina Ibeling

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Geschrieben von

rebelcat86

- Master of Desaster ...äh Arts in Komparatistik - Kind der "Generation Praktikum" - Ironie on!

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