Es ist die einzige Forschungseinrichtung, die mit Blaulicht zum Untersuchungsort fahren darf", sagte Dieter Bitter-Suermann, Präsident der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) anlässlich der Eröffnung einer internationalen Tagung der Unfallforscher (ESAR) Anfang September. Seine Kollegen aus der Unfallforschung sollten sofort vor Ort sein, um detaillierte Daten sammeln zu können, denn eine Unfallentstehungsgeschichte wird am besten dokumentiert, solange die beschädigten Wagen noch an Ort und Stelle und alle Spuren frisch sind.
Etwa 40.000 Menschen sterben in der Europäischen Union jährlich in Folge von Verkehrsunfällen, in der EU soll diese Zahl bis zum Jahr 2010 halbiert werden. Die Zahl der Unfalltoten sinkt in den industrialisierten Ländern kontinuierlich, wenn auch nicht überall gleich schnell.
In den USA macht die Unfallforschung dagegen nur geringe Fortschritte. "Wir fahren im Dunkeln ohne Licht, wenn wir nicht mehr Daten darüber erheben, wie Menschen bei Unfällen verletzt werden", beklagte Carl E. Nash vom National Crash Analysis Center der George Washington Universität. Verglichen mit dem Nutzen für die Autofahrer und die Volkswirtschaft seien die Kosten der Unfallforschung verschwindend. Bekämen die Forscher nur einen pro 10.000 Dollar wirtschaftlichen Verlustes zugewiesen, die durch Unfälle entstehen, stünden bereits 75 Millionen Dollar zur Verfügung.
Doch diese Investition wird nicht getätigt, und so kann nur ein Bruchteil der Unfälle wissenschaftlich ausgewertet werden. Der Mangel an Unfalldaten und Forschungsmitteln beweise, so Nash weiter, dass in den USA nach wie vor kein Bewusstsein für die Unfallgefahr vorhanden sei, weder bei der Autoindustrie noch bei den Autofahrern: "Die Öffentlichkeit denkt immer noch: Mir kann das nicht passieren".
Deutlich geringer noch ist das Bewusstsein für Unfallgefahren in den sich entwickelnden Ländern. Für Asien und Afrika rechnen Wissenschaftler in den kommenden Jahren mit einer Verdopplung der Unfallzahlen. "Unfallprävention in diesen Ländern erreicht man nicht allein durch die Belieferung mit Autos, es müssen auch die Forschungsergebnisse geteilt werden", meint Dietmar Otte, Professor für Unfallforschung an der MHH.
Im Jahr 2004 starben in China etwa 107.000 Verkehrsteilnehmer bei Unfällen. 1990 waren es mit knapp 50.000 weit weniger als die Hälfte. Der Grund dafür ist die rapide steigende Motorisierung. "Wir haben keine aussagekräftigen Daten, aber in China sind Fahrzeuge vergleichsweise neu, weil vor zehn Jahren noch kaum jemand einen privaten PKW hatte", erläutert Jikuang Yang von der Hunan University in Changsa. Trotz moderner Fahrzeuge sterben in China aber circa 40 Menschen pro 5.000 Unfälle, während es in Europa "nur" einer ist.
Volkswagen untersucht nun in Kooperation mit der Tongji Universität Unfälle im Jiading-Distrikt Shanghai. Erste Ergebnisse machen deutlich, dass vergleichbare Autos zwar ähnliche Schäden aufweisen, das chinesische Fahrerverhalten statistisch gesehen aber zu anderen Unfallszenarien führt. "Die Kreuzungen sind groß und einsehbar, aber Ampeln werden einfach nicht beachtet", stellt Ingenieur Axel Tenzer fest. Über 40 Prozent der Fahrer sind nicht angeschnallt und Motorräder aus Gründen der Energieersparnis nachts ohne Licht unterwegs: "Die Fahrer verstehen nicht, wie verletzbar sie sind."
Wie und wieso Menschen Unfälle verursachen, ist ein Schwerpunkt der Unfallforschung. Menschliches Versagen ist hier nur ein Oberbegriff. Was genau versagt? Hat der Fahrer die Situation nicht begriffen, wesentliche Dinge übersehen oder aus Angst falsch reagiert? Das deutsche Forschungsprojekt GIDAS (German In-Depth Accident Study) dokumentiert etwa 1.000 schwere Unfälle pro Jahr, verteilt auf beide Forschungseinrichtungen in Dresden und Hannover. Dabei wird der Unfall aus Sicht der Akteure anhand einer standardisierten Fragetechnik dokumentiert.
Auch in Finnland, wo ausnahmslos jeder tödliche Unfall von einem der 20 multidisziplinären Unfallforscher-Teams untersucht wird, sprechen Psychologen mit den Unfallteilnehmern. "Es geht nur darum, herauszufinden, was passiert ist und wie man es hätte verhindern können", erläutert Inkeri Salo von VALT, dem finnischen Verkehrssicherheitskomitee der Versicherungsunternehmen. Die Akzeptanz sei hoch, denn "die Menschen wissen, dass die Befragung dazu dient, zu klären, warum der Unfall passiert ist, nicht wer Schuld hat."
Eine Arbeitsgruppe von TÜV und DEKRA, die arge 21 tp, hat deutsche Unfalldaten daraufhin ausgewertet, welche Fehler Fahranfänger machen. Wer seit weniger als sechs Jahren den Führerschein hat, weist höhere Unfallzahlen auf als Fahrer mit zehn bis 20 Jahren Fahrpraxis. Das ist nicht erstaunlich, doch es gibt eine ganz typische Verteilung der Fahrfehler. Die Schlussfolgerung daraus ist, dass die Fahrausbildung den Problemen angepasst werden soll: Statt der kleinen eckigen Zeichnungen und der Multiple Choice Tests schlägt die Gruppe vor, den Fahrschülern lieber Filmsequenzen zu zeigen und sie entscheiden zu lassen, wie zu handeln wäre.
Neben der Psychologie des Fahrzeugführers gilt das Interesse der Unfallforscher natürlich auch der Technik im Auto: Halten technische Neuerungen wie Stabilisationssysteme das, was man sich davon versprochen hatte? Eine englische Studie der Universität von Loughborough kommt zu dem Schluss, dass sich mit der neuen Technik auch die Unfallszenarien verändern: Die Unfälle sind weniger schwer und 780 Millionen Euro Unfallfolgekosten ließen sich sparen, wären alle Autos mit entsprechenden Systemen ausgestattet.
Sehr kostenintensiv sind Kopfverletzungen. Doch lange Rehabilitationszeiten, hohe Komplikationsraten und folglich hohe Kosten entstehen auch bei komplizierten Fußbrüchen. Verursacht werden sie häufig beim Aufprall durch Gas-, Kupplungs- oder Bremspedale. Diese Tatsache, mahnt Professor Hans Zwipp von der Universität Dresden sei schon lange bekannt. Er appelliert an die Ingenieure, statt der Pedale Sensoren zu entwickeln, um diesen Autobereich sicherer zu gestalten.
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