Menschen vergessen schnell. Die letzte Katastrophe verdrängt die vorletzte. Die Kriege im ehemaligen Jugoslawien sind längst vom "Kampf gegen den Terror", sprich den Kriegen in Afghanistan und Irak überholt. Die Verbrecher sind vor dem Internationalen Gerichtshof in den Haag angeklagt und zum Teil verurteilt. Manche werden noch gesucht, aber das ist keine Schlagzeile mehr wert und für die meisten Menschen auch keinen Gedanken. Im westlichen Europa war man zumeist Zuschauer, unbelastet, nicht verführbar, gerecht. Teil derer, die bewerteten, die Verbrechen auflisteten und manchmal den Atem anhielten, wenn Schreckliches berichtet wurde. Verbrechen gegen die Menschlichkeit konnten nur Bestien verüben. Der Vergleich mit dem Tierreich kommt vielen ganz automatisch über die Lippen. Denn niemand, der einem selbst gleicht, könnte so Furchtbares tun. Und wenn doch, hat er sich gut verstellt, ein böses Spiel mit der Gutgläubigkeit getrieben.
Für die 1949 geborene, kroatische Autorin Slavenka Drakulic sind die Kriege zwischen Kroaten, Serben, Bosniern und Albanern nicht vorbei, jedenfalls nicht, bevor herausgefunden wurde, wie aus ganz gewöhnlichen Nachbarn Mörder wurden, deren scheinbar fest gefügte Lebensnormen, Vorlieben, Freundschaften, gepriesene und gelebte Multikulturalität bröckelten, bis sie haltlos waren und nur noch den animalischen Kern übrig ließen. Eben das, was das Tribunal in den Haag seit vielen Jahren beschäftigt. Das, was von Menschen, die scheinbar normal in den Nachfolgestaaten Jugoslawiens heute leben, inzwischen gern weg gewischt oder gar als Zumutung erlebt wird, obwohl sie die Verbrechen kennen. Drakulic fragt sich: Wie weit sind Helden und Mörder voneinander entfernt? Warum wird zum Beispiel in Kroatien etwas als heldenhaft gewertet, was im westlichen Europa als Verbrechen verfolgt wird? Warum wurden Nationalismen übermächtig und so total akzeptiert, dass jeder, der anderer Nationalität war, schließlich vertrieben wurde oder getötet, keineswegs "nur Bosnier" und nur in Serbien. Je weniger Menschen anderer Nationalität bei Übernahme eines Ortes verblieben, desto vollständiger der Held. Und plötzlich war da niemand mehr. Wo aber waren sie hin, die jahrzehntelang nebenan wohnten?
Es hat sich längst eine Geschichtsschreibung breit gemacht, die Verbrechen nur einer der Volksgruppen auf dem Balkan zuordnet - den Serben und bosnischen Serben. Kroatische Kinder, so die Autorin, lernen in den Schulen, alle anderen seien unschuldig. Es sei Unrecht, dass in den Haag auch "ihre Helden" vor Gericht stünden.
Für die Autorin ist die Nationalität sekundär, Nationalismus indes die Ursache allen Übels. Allein das wird ihr als unpatriotisch ausgelegt. Und macht sie in ihrer Heimat Kroatien zu einer unbequemen und nicht gern gesehenen Autorin. Sie lebt inzwischen in Schweden. Unverzeihlich ist unter anderem, dass sie die Geschichte des Milan Levar erzählt, kroatischer Kriegsveteran aus Gospic´, Zeuge von Verbrechen an serbischen Zivilisten, der nicht damit leben konnte und sich für den Prozess in den Haag als Zeuge zur Verfügung stellte. Für die Gemeinschaft seines Heimatorts, die sich längst des Besitzes der Getöteten versichert und die Erinnerung an sie ausgelöscht hatte, war er damit aussätzig, er hatte sich selbst geächtet, denn nicht das Exekutionskommando, das wehrlose Frauen und Kinder über den Haufen schoss, hatte Schande über sie gebracht, sondern der, der darüber sprach. Er bezahlte den "Affront" mit dem Leben. Sein Mörder wurde nie verurteilt und gilt als geachteter Mann.
In ihren vorangegangenen Arbeiten beschäftigte sich die Autorin mit diesem Krieg ausschließlich aus der Sicht der Opfer. Für das jüngste Buch verlässt sie diese emotional aufwühlende Perspektive. Unter Vorbehalt und mit der ständigen Angst, sich den Tätern zu verständnisvoll zu nähern, will sie herausfinden, wie einer wird, was er im Krieg schließlich gewesen ist. Und zwar auf allen Ebenen: Als politisch Verantwortlicher, Kommandeur, Massenmörder, Mittäter, Mitläufer. Eines weiß sie nämlich genau: Es kann gar nicht so viel abartig Veranlagte in einem Volk geben, um sie allein für die Verbrechen verantwortlich zu machen. Zwar ist Schuld immer individuell, die Verantwortung für geschehenes Unrecht aber müssen alle übernehmen. Denn die scheinbare Unschuld ist die Mutter die Schuld. Die Täter sind nicht zugereist, unnormal oder sadistisch veranlagt, es sind die eigenen Söhne, Männer, Väter. Nationalistisch hochgespielte private Verfehlungen werden peu à peu einer Volksgruppe zugeordnet und dienen als Rechtfertigung energischer Ausgrenzung. Hatten die Vorfahren des Nachbarn nicht den Urgroßvater bestohlen? Es sind die kleinen Anlässe, die aufgebauscht und angereichert von übermächtigen Medien und einer interessierten Politik jeweils ausgewählten Volksgruppen zugeordnet werden. Zusammen mit sozialen und nationalen Ungerechtigkeiten, die es schließlich zu Hauf gibt, weisen sie scheinbar in die ähnliche Richtung: die eines ethnisch einheitlichen Nationalstaats.
Orte sind austauschbar. Die Logik des Eskalation aber ist immer die gleiche: Ich tue dem vermeintlichen Feind an, was er mir in Zukunft vielleicht antun könnte oder in der Vergangenheit angetan hat. Es scheint als sei die Menschheit über Auge um Auge, Zahn um Zahn nicht hinaus gekommen. Diese Maxime ist inzwischen anerkannte Staatsdoktrin und zugegebene Verteidigungsstrategie. Siehe die Begründungen für den Irak-Krieg.
Slavenka Drakulic bemüht sich bewusst um Distanz bei hoher Genauigkeit in der Schilderung historischer Abläufe. Ihre Täter-Porträts sind angereichert mit Autorenkommentar, gesellschaftspolitischen Fakten und sprachlich so sorgfältig gearbeitet, dass kaum Zweideutigkeiten vorkommen. Ihre Angst, Weisswäsche zu betreiben, führt dennoch gelegentlich selbst bei ihr zu Unterstellungen, die nationalistisch gedeutet werden könnten: der Serbe, der wie alle Serben als Vollstrecker einer großen Geschichte agieren möchte .
Man kann dieses Buch als Porträtband über einige des Völkermords angeklagte Verbrecher in den Haag lesen. Die Autorin hat auch jene Verhandlungstage wahrgenommen, die sonst von Medien, weil unspektakulär, eher gemieden werden. Sie gewinnt daraus den Eindruck der Gewissenhaftigkeit, anders als in der Presse ihrer Heimat dargestellt, werden "nicht nur Vorurteile" bedient. Die Frage allerdings bleibt: Gibt es das Besondere, das diese Leute und nur sie zu Tätern werden ließ? Sie findet bei wenigen jene Charaktereigenschaften, die auf Rigorosität und gesteigertes Geltungsbedürfnis deuten. Was den Leser verstört: Das Böse ist das Banale in Jedermann. Unter den besonderen Bedingungen von Krieg und Angst und Manipulation ist es herauf zu beschwören, fast überall. Wer es ausschalten will, muss sich über seine Verbreitung klar werden. Er darf nicht nur richten, er muss die Mechanismen, die leisen Anfänge von Zerwürfnissen im Bewusstsein halten. Dieses Buch weist nach, dass der Weg in die Katastrophe nicht nur mit Hass oder Ausgrenzung gepflastert ist. Angst führt auf dieselbe Straße und das Gefühl, Teil einer besonderen Spezies zu sein, der man verpflichtet ist und der man mehr oder andere Rechte zubilligt als anderen Individuen um sie herum.
"Der Spießer" schreibt Hannah Arendt im April 1946 in Organisierte Schuld "ist der moderne Massenmensch. Er hat die Zweiteilung von Privat und Öffentlich, von Beruf und Familie soweit getrieben, dass er noch nicht einmal in seiner eigenen identischen Person eine Verbindung zwischen beiden entdecken kann. Wenn sein Beruf ihn zwingt, Menschen zu morden, so hält er sich nicht für einen Mörder, gerade weil er es nicht aus Neigung, sondern beruflich getan hat." Das gilt unverändert. Auch als Motto des Buches.
Slavenka Draculic , geboren 1949 in Kroatien, ist Schriftstellerin und Journalistin. | |
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