Gelegentlich steht ein Passant vor dem Sandsteinquader am vorderen, dem Dom zugewandten Eck des Berliner Lustgartens und liest die eingemeißelten Schriftzüge. Sie erinnern an die "kommunistischen Widerstandskämpfer" der Gruppe um Herbert Baum, die 1942 mit kaum Schaden verursachenden Brandsätzen gegen die Hetzausstellung der Nazis "Das Sowjetparadies" protestierten. Sie wurden gefasst und hingerichtet, einige deportiert, kaum einer überlebte. Nach der Wende fügte man eine durchsichtige Platte hinzu, auf der die Namen all der jungen Leute vermerkt sind, die der anschließenden Verhaftungswelle zum Opfer fielen, auch derer, die am Anschlag nicht direkt beteiligt waren. Sie alle gehörten zum jüdisch kommunistischen Widerstand. Dass es den gab, wie er agierte, wer dazu gehörte, weiß kaum einer.
Widerstand gegen den Faschismus ist für uns schablonenhaft segmentiert: Im öffentlichen Bewusstsein dominiert die Erinnerung an die Attentäter vom 20. Juli, man weiß (mindestens im Osten), dass Kommunisten, Sozialdemokraten und einige Leute der Kirche im Widerstand arbeiteten, jüdischer Widerstand scheint keine eigene Kategorie. Er wird dem kommunistischen zugeordnet. Aber es gab ihn. Das beweist unter anderem die Gruppe um Herbert und Marianne Baum. Ihre Mitglieder waren nach den Nazi-Gesetzen Juden oder Halbjuden. Ganz normale junge Leute zunächst, engagiert, lebenslustig. Organisiert in ganz unterschiedlichen Freizeitgruppen, keineswegs von Anfang an politisch interessiert. Sie wollten leben, lieben, ihren Idealen folgen. Nicht anders als die meisten jungen Leute. Die Nazis engten ihre Möglichkeiten Schritt für Schritt ein, grenzten sie aus, ferchten sie erst in besonderen Häusern zusammen, verpflichteten sie zur Zwangsarbeit, die totale Isolation folgte, am Ende die Vernichtungsmaschinerie. Wer konnte, verließ das Land, viele aber konnten nicht. Ihre Alternative war nicht Wohlverhalten oder Tod, sondern geplanter Tod, der durch Wohlverhalten nur beschleunigt wurde. Wer nicht verzweifeln wollte, suchte nach Freunden. Wer sich in Gruppen zusammenfand, suchte nach Möglichkeiten des Widerstands. Sie waren entschlossen, sich nicht einfach zu ergeben. Zeichen zu setzen schien ihnen nötig und möglich, den gedemütigten jüdischen Verwandten und Freunden Mut zu machen. In eigener Regie. Ihren Freunden aus kommunistischen Gruppen war das zu wenig konspirativ. Aber Konspiration schützt nur, wenn es Möglichkeiten zum Überleben gibt.
Die Berliner Autorin Regina Scheer hat die Erinnerung an jüdisches Leben in der Stadt schon seit vielen Jahren in den Mittelpunkt ihrer schriftstellerischen Arbeit gestellt. Ihr Buch AHAWAH. Das vergessene Haus, Spurensuche in der Berliner Auguststraße sucht es hinter den alten Mauern einer Schule, die Krankenhaus wurde, dann Sammelstelle vor der Deportation in die Lager und wieder Schule. In Es gingen Wasser wild über unsere Seele. Ein Frauenleben verfolgt sie die Spuren der aus Berlin noch ausgereisten jüdischen Kinder im heutigen Israel. Im Schatten der Sterne, dem jüngsten Buch dieser Reihe, rekonstruiert Scheer die kurzen Jahre des erwachsenen Daseins der junge Menschen im Umkreis von Herbert Baum an Hand der Erinnerungen Überlebender, von Vernehmungsakten der Gestapo und der Staatssicherheit, mit Hilfe der von Justizverwaltungen einbehaltenen Briefe und Kassiber, an Hand von Gnadengesuchen, wenigen Fotos und einigen Gedächtnisprotokollen.
Die Autorin bleibt streng dokumentarisch, unterbricht lediglich durch die Beschreibung von Verhalten, Stimmlagen, Mimik, wenn sie selbst mit Überlebenden oder deren Nachkommen spricht. Sie verzichtet auf Einzelheiten von Folter und Gewalt. Die Akten haben sie nicht portokolliert. Aber sie vermerkt, wie viele der Delinquenten nicht durchhalten, sich das Leben zu nehmen versuchen, im jüdischen Krankenhaus, dem kaum Medikamente zur Verfügung standen, halbwegs gesund gepflegt, dann ein zweites Mal abgeholt, verurteilt und hingerichtet wurden.
Diese Methode verstärkt den Eindruck des beklemmend "Normalen" bei diesem deutschen Völkermord. Die althergebrachten Rituale des Strafvollzugs bleiben intakt: Über jeden "Vorgeführten" ein Bericht. "Gute Führung" wird bescheinigt, aber "keine besonderen Verdienste" vermerkt, die der Verurteilung entgegen stünden. "Nur" zehn oder 15 Jahre Zuchthaus erhielten ein paar der nicht am Attentat Beteiligten, der Rest: Todesurteile. Am Ende hatte so gut wie keiner überlebt.
Das Buch will den verschiedenen Personen, deren Namen heute auf Erinnerungstafeln auftauchen aber nur in seltenen Fällen Erinnerung auslösen, ihre Individualität zurück zu geben. Welche Gründe zwangen sie, im immer antisemitischer werdenden Deutschland zu bleiben? Was waren sie für Menschen? Ruhig, temperamentvoll, besonnen oder spontan. Hatten sie Kinder und was wurde aus denen? Wo blieben Eltern und Geschwister?
Die Autorin forscht und findet den ehemaligen Verlobten von Edith Fränkel, einer jungen Frau, die am Attentat nicht beteiligt, aber zum Freundeskreis der Baums gezählt wurde und deren Spur sich in Auschwitz verliert. Sie lässt sich erzählen, sucht die Akten der anderen und entwirft ihre Porträts. Die Autorin beschreibt die wenigen glücklichen Momente im Leben dieser kaum 20-Jährigen mit ihren Vorlieben und Antipathien, einer bestimmten Art, sich zu bewegen. Das Bild von der Zeit, den Menschen damals, den wenigen Helfern, die dafür oft mit dem eigenen Leben bezahlten, wird klarer. Die Geschwister Scholl und ihre Gruppe an der Münchner Universität, sie hatten Geistesverwandte. Es gab nicht nur Emigranten in den alliierten Armeen, Kommunisten im In- und Ausland, die der faschistischen Maschinerie in die Speichen zu greifen versuchten, neben dem Aufstand im jüdischen Ghetto von Warschau, gab es den Aufstand jüdischer junger Menschen, unter anderem in Berlin.
Die Autorin reißt die Schubladen unseres Geschichtsverständnisses mit Erfolg auf und ordnet sie anders. Dass die Straße, die zum jüdischen Friedhof in Weißensee führt, heute Herbert Baum-Straße heißt, datiert zwar aus DDR-Zeiten. Das heißt aber nicht, die überlebenden jüdischen Widerständler wären in der DDR von Anfang an geehrt gewesen. Sie hatten Normen der Konspiration verletzt, gerieten unter Generalverdacht, sie waren in westliche Länder emigriert, falls das denn möglich war, (die in die Sowjetunion Emigrierten fielen oft Stalins "Säuberungen" zum Opfer und kehrten nie zurück), sie hatten die Motivation für den Widerstand nicht nur aus einem anderen Gesellschaftsentwurf, sondern auch aus der Bedrohung ihres Volkes bezogen. "Verdachtsmomente", die, laut SED-Akten, zu Verdächtigungen und Überprüfungen führten. Erst spät wurden sie dem antifaschistischen Widerstand pauschal zugeschlagen, durften in Schulen auftreten, erzählen, ein wenig Ehre erfahren und so verarbeiten. Ihre Richter, das Buch vermerkt auch das, sprachen in der Bundesrepublik noch lange "Recht". Sie blieben bis auf eine Ausnahme unbehelligt.
Die Autorin springt zwischen den verschiedenen historischen Epochen, baut dadurch Brücken, die direkt vom Damals ins Heute führen. Auch wenn für viele Momente Belege nicht mehr aufzufinden sind, die vorhandenen Puzzleteile, in eine Abfolge gefügt, geben jungen Juden das eigene, das unverwechselbare Gesicht zurück: konkrete Erinnerungsarbeit, jüdische Geschichte im nachvollziehbaren Raum. Regina Scheer wertet nicht, auch dann nicht, wenn aus den überlieferten Papieren hervorgeht, dass nicht alle den Torturen der Verhöre gewachsen waren. Sie erzählt stattdessen eine talmudische Geschichte, nach der es Wanderern in der Wüste untersagt ist, das Wasser, das nur für eine Person reicht, zu teilen. Allerdings habe der Überlebende die Verpflichtung, für die anderen mit zu leben.
Regina Scheer: Im Schatten der Sterne - Eine jüdische Widerstandsgruppe, Aufbau, Berlin 2004, 478 S., 24,90 EUR
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