Er gehört zu jener Kategorie Mensch, die nichts in die Knie zwingt. Niederlagen, Brüche, Veränderungen gehören zum Leben. Der Mensch hat einen Verstand, um sie zu bewerten und positiv umzukehren. So will er auch zehn Jahre deutsche Einheit verstanden wissen. Die Bilanz von DDR-Wirklichkeit hatte gerade für sachlich analysierende Wissenschaftler ergeben: untauglich für weitere Entwicklung. Also musste Neues probiert werden. Naturgesetze sind so. Ein Teil der Motivation, gesellschaftliche Veränderungen zu wollen. Was ja noch nicht hieß, das, was kommen würde, in den Verästelungen zu überschauen. Oder gar, die neu entstehenden Koordinaten mit zu bestimmen. Für ihn ist es deshalb kein Wunder, dass die Zahl derer, die sich ausgetrickst, abgeschoben, unterbewertet fühlten und schließlich auf der Strecke blieben, groß war.
Zu denen zählt sich Christian Hälsig jedoch nicht. Er ist Professor, 17facher Patentinhaber, ehemals Leiter der Entwicklungsabteilung »Frequenzselektive Bauelemente« beim VEB Elektronische Bauelemente Kombinat Teltow, dann Leiter der Ausgründung und agierte schließlich im Auftrag einer amerikanischen Firma. Seine Bilanz fällt - alles in allem - positiv aus. »Meine Ansätze waren meistens richtig«. Das ist für ihn das einzige, was zählt. Dass es dann häufig anders kam, muss er nicht intellektuellem Versagen zurechnen. Unwägbarkeiten des neuen Systems sind seiner Meinung nach dafür verantwortlich. Und mit Unwägbarkeiten hatte er Zeit seines Lebens zu tun. Wenn auch unter anderen gesellschaftlichen Bedingungen.
Hälsig ist das, was landläufig ein Stehaufmännchen genannt wird: Die Besinnung auf das Ich, zusammengefügt aus Lebenserfahrung, Wissen, Erfolg und Niederlage bringt ihn kraftvoll aus jeder Position wieder in die selbstbewusste Senkrechte. Und das ist die einzige Haltung, in der er leben kann, zu DDR-Zeiten und auch jetzt. »Die ewig heulenden Ossis sind eine Erfindung der Medien.« Denn für ihn kann es ein Leben, das nur aus Erfolgen besteht, nicht geben. Niederlagen sind wie in einem Ja-Nein-Schema die notwendige zweite Komponente, ohne die Erkenntnis ausgeschlossen ist. Jammerossi also ein denunziatorischer Begriff, der diejenigen klein halten kann, die sich selber klein machen. In seiner Umgebung lernt man und beginnt von vorn.
Seine Umgebung: Das ist zunächst einmal die Industrie nahe Forschung der DDR gewesen, wie sie im Raum Teltow zusammengefasst war, und sein Lebensmittelpunkt das Örtchen Kleinmachnow. Jene Berliner Stadtrandsiedlung, die nach 89 zu annähernd 80 Prozent mit Rückgabeforderungen überzogen wurde. Natürlich haben die Einwohner versucht sich zu wehren, aber dafür ist »jammern« kaum der richtige Begriff. Hälsig blieb von Rückgabeforderungen verschont, »wir hatten Glück«. Denn welches Haus man kaufte, richtete sich nach Angebot und nicht danach, wie viele eventuelle Erben der Stammbaum auswies.
Dass die Nachbarn, die packen mussten, im Ort bleiben wollten, versteht er. Eine ganze Menge von ihnen fingen von vorn an. »Schauen Sie ruhig noch mal raus, da, wo die beiden Tannen stehen, wird es bald keine Wiese mehr geben, sondern neue Häuser.« Ein bisschen zusammenrücken, es gibt Schlimmeres. Und die neue Straße vorm Haus, die direkt zur Autobahn führt? »Vielleicht ist es etwas lauter, aber auch bequemer«. Lamentieren ist nicht sein Ding. »Wenn Sie sehen wollen, wie ich arbeite, fahren Sie bis zur Ausfahrt Kleinmachnow und dann die Straße immer geradeaus«. Die Suche nach einem Labor, einem Bürotrakt, einer kleinen Fertigung erweist sich als falsch. Rechts und links der Straße gepflegte Grundstücke, darauf Einfamilienhäuschen, auch bei der angegebenen Hausnummer.
Als erstes schiebt sich ein Wäschekorb durch die Tür, dann kommt ein freundliches Gesicht zum Vorschein: »Wir sind erst gestern aus dem Urlaub zurückgekommen, entschuldigen Sie, mein Mann ist gleich so weit.« Sein »Büro« liegt im ersten Stock. Verschiedenfarbige Aktenordner in kreisrunden Gestellen, eine Computeranlage plus vielfältige Kommunikationsgeräte, ein riesiger Schreibtisch. »Hier ist das Konzept für meine neue Firma entstanden, die, wenn alles wie geplant läuft, am 1. Januar zu arbeiten beginnt.«
»Hier?« - »Nein. Nach meinen Erfahrungen in diesem System gelten selbst unterschriebene Verträge nicht unbedingt als verbindlich. Etwas, was mir als logisch denkendem Techniker erst einmal nicht einleuchtete, das ich aber akzeptieren und wonach ich handeln muss. Also werden exakte Daten erst ausgereicht, wenn wir begonnen haben.« - Als was?« - »Als kleinere, wenn es gut läuft als größere Innovationsfirma.«
Die war nicht sein Ziel, als er 89 begann, um das Überleben der Forschungsstätte zu kämpfen. Aber es ist für ihn dennoch so etwas wie eine logische Variante. Sein Verstand sagt ihm, was im Moment nicht zu ändern ist, musst du annehmen, etwas daraus machen und solange modulieren, bis es für dich brauchbar ist. Das unterscheidet ihn vielleicht von anderen: Die Bereitschaft, im Augenblick Unlösbares zurückzustellen und dadurch Widerstände zeitweilig zu entschärfen. In der Regel kommt der Tag, an dem andere Entscheidungen positiv oder negativ Einfluss nehmen. Es ist wie mit einem Knoten, eine andere Windung, und er löst sich.
Hälsig, Endfünfziger mit zwei erwachsenen Kindern und einem Enkel, könnte seine Zeit damit füllen, noch ein paar Handlangerdienste für andere Firmen zu leisten, Angebote hatte er genug. Aber das würde er sich nicht verzeihen. Hälsig definiert sich als kreativen Menschen, der in einer Zeit, in der Kreativität gerade auf seinem Gebiet gebraucht wird, nicht auf dem Sofa sitzen bleiben kann. Seine Lebensphilosophie: wenn es geraden Wegs nicht geht, können auch Waldwege ans Ziel führen. Anders wäre er vor 1989 auch nicht Entwicklungsleiter geworden.
Die Spielräume für Kreativität waren in der DDR ziemlich eng: Unzureichende Informationen, zu viele Vorgaben von inkompetenter Seite. Er aber hatte sich mit jenen Prozessen zu befassen, in denen es um internationale Konkurrenzfähigkeit ging. Scheinbar unlösbare technische Fragen standen wie unbestiegene Berge vor ihnen und sollten begehbar werden. »Uns musste etwas einfallen, Umwege waren das Selbstverständliche. Wir wussten ja nicht, wie andere ein Problem angingen, westliche Fachzeitschriften durften wir nicht lesen. Aber wenn die DDR zum Beispiel Fernsehapparate exportieren wollte, mussten die den Normen von Kommunikationsoffenheit, wie in Helsinki beschlossen, entsprechen. Das hieß für uns, elektronische Filter zu entwickeln, damit nicht nur das im Ostblock übliche SECAM-Farbbildsystem, sondern auch das in der Bundesrepublik verwendete PAL-System in einwandfreier Qualität empfangen werden konnten. Was uns damals dazu eingefallen ist, war besser als das, was Siemens oder die Japaner entwickelten. Allerdings wurde unser Vorsprung durch eine ziemlich archaische Form der Herstellung wieder aufgefressen.«
Trotzdem, 17 Patente waren auch nach 89 eine schönes Kapital. Denn Filter werden in beinahe allen elektronischen Geräten verwendet, der Boom bei Handys, Kameras, Computern .... ist noch längst nicht am Ende. Die Einsatzgebiete beinahe unerschöpflich.
Der nächste Grund, die Wende zu begrüßen: Endlich freisetzen, was an Ideen in den Köpfen spukt. »Das kreative Potential in so einer Forschungsabteilung war riesig, auch wenn das heute keiner mehr wahrhaben will.« Es blutet inzwischen langsam aus, die wirklich guten und jüngeren Leute haben sich überall in der Welt etabliert. Andere vermarkten ihre einmal gefundene Idee recht und schlecht. Der Nachteil der in der DDR ausgebildeten Wissenschaftler: Sie waren nicht bekannt. Die DDR sperrte sich gegen internationale Veröffentlichungen, sie wollte »ihre« Entwicklungen selber vermarkten - jedenfalls das tun, was sie unter vermarkten verstand. Dazu gehörte nicht, etwas weltweit publik zu machen, sondern in die eigenen Fertigprodukte zu integrieren. Erfolgreiche Entwickler hatten also nicht gelernt, ihre Ideen in Geld umzumünzen. Dafür waren Außenhändler zuständig, es ging säuberlich getrennt zu - damals. Wer die Hürde Selbstdarstellung nach der Wende nicht in kürzester Zeit nahm, blieb auf der Strecke. Marktwert: Null.
Hälsig ahnte es mehr, als er es wusste, und wollte »seinen Laden« auch deshalb aus dem Kombinat ausgliedern, gleichzeitig aber zusammenhalten und verwerten, was angedacht war. Nach der Wende mit nur zwei Gegenstimmen gewählt, rackerte er sich ab, verhandelte, suchte unerlässlichen westlichen Verhandlungsbeistand, entwarf Strukturen, trieb Geldgeber auf, gründete die GmbH »Telefilter«, durfte (westliches Verhandlungsgeschick) die Sachwerte in die GmbH überführen, nicht die Immobilie. In der Rückschau fatal. Die zunächst funktionierende Beteiligungsgesellschaft der Deutschen Bank wurde nicht verlängert, Verhandlungen mit der westdeutschen Firma Telequarz storniert, Telefilter sollte nicht Partner, sondern Unterabteilung sein. So kurz nach der Wende undenkbar -sich wieder unterordnen, nicht mitbestimmen dürfen.
Was schließlich kam, entsprach dennoch dem Szenario, das überall ablief, wo es um die Verwertung oder Zerschlagung von Hinterlassenschaften der DDR ging: Die einen wollten Standort und Arbeitsplätze erhalten, die anderen Schubkraft für den eigenen Betrieb gewinnen oder Konkurrenten ausschalten. Immerhin, die GmbH landete bei der Roland-Ernst-Gruppe, das sind diejenigen, die erst ein paar Jahre später im Zusammenhang mit dem überdimensionierten Potsdam-Center ins Gerede kamen und sich so total übernahmen, dass alles, was vorher gekauft worden war, wieder abgestoßen wurde. Diesmal an die Amerikaner.
Hälsig wird herumgereicht, drückt dem amerikanischen Präsidenten ebenso die Hand wie dem chinesischen. Er erhält den Innovationspreis des Landes Brandenburg, entwickelt einen Filter, der bei doppelter Leistung nur die Hälfte des bisherigen japanischen kostet. Er ist sich ganz sicher, das ist der Durchbruch. Kein Kapitalist setzt zwei Millionen ein, wenn er das Gewünschte auch für eine haben kann, verspricht er seinen Mitarbeitern.
Und irrt sich. Das Produkt ist Spitze, der Absatz funktioniert nicht. Eine unerwartete Erfahrung, die er zunächst nicht werten kann. Um erfolgreich zu sein, braucht man nicht nur die herausragende Idee, sondern auch Kenntnisse über den Vertrieb des Vorläuferprodukts. Läuft der über Koppelgeschäfte? Abgesichert durch langfristige Verträge? Bei welchen Lieferfristen lohnt der Einbau eines billigeren Filters? Wer als »Neuer« den Markt umkrempeln will, braucht eben nicht nur Innovation, sondern einen Vertrauensvorschuss bei den Abnehmern, der an ein finanzielles Hinterland gekoppelt ist.
Ihr wunder Punkt war und blieb Geld. Als GmbH fehlte es ihnen. Ihre eigenen Anteile waren so gering, dass der amerikanische Konzern ihnen die Ermächtigung entzog, die Ergebnisse der Arbeit so zu vermarkten, wie sie es für richtig hielten. Nicht einmal die gute Einbettung in brandenburgische Wirtschaftspolitik half. Die juristische Selbständigkeit wurde gekappt. Und Hälsig entlassen. Er versteht es bis heute nicht, ebenso wenig wie die Tatsache, dass er die vertraglich vereinbarte Abfindung erst einklagen musste.
Das Stehaufmännchen Hälsig trägt Positives und Negatives dieser Jahre zusammen: Negativ: Vertragsgläubigkeit, ungenügender Darstellungswille, nicht ausreichende Analyse des jeweiligen Entscheidungszusammenhangs. Positiv: Richtige Bewertung dessen, was gebraucht wird, herausragende Ideen, gewachsenes Beziehungsgeflecht. Ende der Vertrauensseligkeit. Die Summe der Erfahrungen dieser Jahre ist für ihn ermutigend. Also: Der Speicher im Hinterkopf ist mit neuen Daten gefüllt, die Verbindungen aus seiner Zeit im brandenburgischen Technologierat auch über die Zeit bei Telefilter hinaus tragfähig. Der Realist rechnet zusammen und kommt zu dem Ergebnis: Ein Neuanfang lohnt.
Heute kennt er sich aus in dem Wirtschafts-, Regel- und Förderwerk des Landes, arbeitet der Politik, wenn nötig, zu. Für sich selber hat er in den zehn Jahren gelernt, »Kernwissen« gibt man nicht aus der Hand. Für seine neue Firma sind alle Eventualitäten geregelt: Die Idee, auf der sie fußt, geschützt. Er hält 51 Prozent der Anteile, die Option »klein, aber mein« ist ebenso durchgerechnet wie die eines mittelständischen Unternehmens mit eigener Produktion. Fachleute für jeden Fall stehen bei Fuß.
Christian Hälsig hat einige seiner Mitarbeiter am Markt etablieren können, vielleicht sind sie auf andere Weise heute genauso unterfordert wie damals in der DDR, aber sie sind in der Lage, ihr Können zu beweisen. Er hat Illusionen verloren, aber eine Chance für Leute wie ihn hält er nach wie vor für gegeben, seine Ziele für durchsetzbar. Er hat gelernt, Rückschläge als Grundlagenwissen für Siege zu definieren. Tiefschläge führen auch bei ihm zu Grübeleien und den bekannten Ablenkungen »Renovieren«, »Gartenarbeit« oder »Betreuung des Enkelkinds«, dann aber findet er zielsicher jenen inneren Punkt, der das eigene Gewicht vervielfacht, den Kopf freimacht und ihm den aufrechten Gang ermöglicht.
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