Der Krümel Hefe

RÜCKKEHR DES KONKURRENTEN Eine Generation von Wissenschaftlern der DDR wurde ins Abseits gestellt. Unter ihnen der international renommierte Mediziner Horst Klinkmann. Heute ist er wieder da als Klinikberater und Begründer einer innovativen medizinischen Produktionskette

Es ist einfacher, ein Atom zu spalten, als ein Vorurteil zu korrigieren, sagte Einstein. Die Auseinandersetzungen um Wert und Unwert der DDR-Wissenschaft können als Großversuch zur Bestätigung dieser These gelten.

Das westdeutsche Vorurteil hieß: Aus dem Osten kann nichts kommen, was der deutschen Wissenschaftslandschaft von Nutzen wäre, eine "Abwicklung" bedeutet keine nennenswerten Verluste. Die Evaluierer des Westens bescheinigten sich, gewissenhaft gesucht und immerhin einige wenige Forschungsvorhaben gefunden zu haben, die sie unter anderen Vorzeichen weiterführen konnten. Mehr sei nicht drin gewesen.

Das Ausland griff gezielt zu und bediente sich der aussortierten Fachkräfte. Es ließ ihnen auch hohe Ehren zuteil werden. Einige von ihnen kehrten inzwischen zurück. Zum Nutzen jener Regionen, die ihnen über die Fouls der Wendezeit hinweg die Treue gehalten hatten. "Bio Con Valley" in Teterow ist die gerade zur Produktionsreife gelangte Vision des nach 1989 nicht mehr genehmen Professors Dr. med. Horst Klinkmann.

Bis nach China und zum Papst war Klinkmanns wissenschaftlicher Ruf gedrungen. Die politisch korrekte Klasse der neuen Bundesrepublik verzichtete großzügig. Die Universität Rostock entledigte sich ihres berühmtesten Kollegen "wegen mangelnder persönlicher Eignung": Der Mann war Mitglied der SED und hat im Politbüro für moderne Medizinmethoden geworben, Gelder locker gemacht, um entsprechende Kliniken einzurichten.

Genugtuung war dann für ihn nicht der in einem Prozess erreichte Vergleich, sondern er erhielt sie durch jene internationalen Gesellschaften und Forschungseinrichtungen, die ihm ihre Mitgliedschaft antrugen: unter anderen die New Yorker Akademie der Wissenschaften, die Belgische Akademie, die Royal Colleges in Glasgow und Edinburgh, die Universität Bologna, die ihm eine Professur gab. Dazu kamen seine Lehrtätigkeit in Glasgow, die Wahl zum Dekan der Internationalen Fakultät für Künstliche Organe, auch seine Arbeit ehrenhalber an der Nanking- Universität in China, die Wahl zum Präsidenten der Weltgesellschaft für Aphäresis (Blutreinigung) vor zwei Jahren. Und seit drei Jahren kümmert er sich als Ärztlicher Direktor um die Mecklenburger Kliniken der Focus Medical-Gesellschaft in Klink, Bad Doberan und Dierhagen.

Was in der Wende mit ihm geschehen war, nennt er allerdings die "größte Niederlage, die größte Demütigung seines Lebens".

Horst Klinkmann war fast zwei Jahrzehnte Chef der Universitätsklinik für Innere Medizin in Rostock, die sich unter seiner Leitung zum Zentrum für Organersatz entwickelte. Er war wesentlich beteiligt an der Einführung der Transplantationsmedizin in Ostdeutschland, sein Name galt als Gütesiegel der DDR-Medizin. Er sagt heute: "Wenn man die Summe unserer wissenschaftlichen Leistungen objektiv und frei von Konkurrenzgedanken hätte ziehen können, wäre man erstaunt, wie viel geleistet worden ist."

Nachdem anfangs überraschend viele Forschungsvorhaben positiv evaluiert worden waren, sahen die etablierten Mediziner der alten Länder einen verschärften Kampf um schrumpfende Fonds voraus. Denn die Forschungslandschaft der DDR erwies sich, anders als der Präsident der Max-Planck-Gesellschaft voraussagte, zwar als Wüste, aber mit fruchtbaren Oasen, in denen seltene Gewächse existierten. Wo das ganz offensichtlich war, wurde schon mal ein Institut eingepasst, das Max-Delbrück-Zentrum Buch ist eines der wenigen positiven Beispiele. Sein Eintrittsbillett in die westdeutsche Medizingesellschaft war ein akribisch geführter, beinahe einmaliger Krebsatlas, der alle Faktoren auflistet, die im Zusammenhang mit der Krankheit stehen können, ein Fundus für Ursachenforschung und Vorbeugung, alsbald vom eingesetzten westdeutschen Leiterpaar privat verwertet.

Vieles von dem, was nach der Wende im Osten zerschlagen wurde, soll jetzt aus Kostengründen mit einer umstrittenen Gesundheitsreform erreicht werden: Die Zusammenarbeit unterschiedlicher Fachrichtungen, die in der DDR durch die räumliche Nähe der verschiedenen Disziplinen in Polikliniken und Ambulatorien, heute würde man Ärztehäuser sagen, beinahe selbstverständlich war. Gerade weil die Mittel in der DDR knapp waren, was deutliche Rückstände in der apparativen und baulichen Ausrüstung zur Folge hatte, wussten die Mediziner, dass kurze Wege zwischen den Disziplinen Geld sparen, und vermieden Doppeluntersuchungen, die nicht dem Patienten, sondern lediglich der Auslastung der Geräte dienten, was heute abgerechnet werden kann. Der ganzheitliche medizinische Ansatz war in der DDR möglich, weil der Kranke nicht als Basis des Einkommens gesehen wurde. Die medizinischen Dispensärsysteme, die Vorsorge und Betreuung für Diabetiker, Nierenkranke und Rheumatiker garantierten jedem Kranken die optimale Versorgung durch Spezialisten. Für den Arzt Klinkmann grenzt es an Komik, wie krampfhaft man sich in der gegenwärtigen Debatte bemüht, bloß keine Ähnlichkeiten zur DDR zuzulassen und alle Begriffe zu vermeiden, mit denen gleiche oder ähnliche Vorgänge bezeichnet würden.

Geborener Mecklenburger, Jahrgang 35, der früh seine Eltern verlor, wuchs Klinkmann - und davon spricht er in den höchsten Tönen - in der Gemeinschaft seiner Heimatstadt auf und entwickelte eine, wie er sagt, "beinahe pathologische Beziehung zu Teterow, der Stadt, die mich aufgefangen und mich nie verlassen hat, auch nicht in turbulenter Zeit. Und mir - gegen alle Diffamierungen - das Ehrenbürgerrecht nicht nur belassen, sondern mit einer Unterschriftensammlung noch einmal bestärkt hat. Treue gegen Treue". So große Worte benutzt er selten, also lächelt er verlegen und weist auf den FC Hansa Rostock hin, dem er auch treu geblieben ist, als Aufsichtsratsvorsitzender. Wohl deshalb vergleicht er das, was in der Wissenschaftsabwicklung gelaufen ist, mit einem Schiedsrichterfoul.

Mit einer ausholenden Geste umgreift Klinkmann "sein" Bio Con Valley. Der Name stellt bewusst eine Assoziation mit amerikanischen High-Tech-Betrieben her. Auf einem Gelände der Stadt Teterow werden 25.000 Quadratmeter von einem Glaspalast umschlossen - inzwischen der Firmensitz der Plasma-Select AG - die von Unterschleißheim bei München nach Teterow zog, weil Klinkmann mit seinem Konzept einer Hochtechnologie-Produkt-Strecke überzeugte.

Sein Freund Reinhard Dettmann, Physiker, heute Bürgermeister der Stadt, hat nicht wirklich an die Realisierbarkeit geglaubt, als Klinkmann seine Vision eines Konzerns für biotechnische Erzeugnisse entwickelte. Aber er wusste, von ihm kommt keine "heiße Luft". Die Japaner, die mit ins Boot sollten, sind zwar noch nicht dabei, aber "das wird noch". Klinkmann glaubt an seine Ideen. Seit März existieren nun in Teterow über 100 hochwertige Arbeitsplätze in der Produktion spezieller Absorber, die in der Blutplasmatherapie benötigt werden. 500 Arbeitsplätze sollen es werden, und heute gibt es auch bei denen, die skeptisch waren, keine Zweifel mehr. Günstige Bedingungen, ausreichend Fördergelder, der renommierte Name und das Verhandlungsgeschick der engagierten Freunde haben das kleine Wunder vollbracht. Acht weitere Biotech-Firmen, allesamt von Ostdeutschen gegründet, sind mit dabei. Einige haben Klinkmann-Schüler initiiert, die ihrem Lehrer und der Anziehungskraft des Standorts vertrauen.

Seine Karriere ist "DDR-gemacht", das will Klinkmann nicht leugnen. Er wurde zum Teil der wissenschaftlichen Elite des Landes, denn eine gewachsene gab es in der DDR nicht. Die einen nannten es Flucht, die anderen Abwerbung, der Effekt war letztlich gleich. Sollte dieses Vakuum nicht Menschen verschlingen, gab es nur den einen Weg, die geistigen Ressourcen der Gebliebenen auszuschöpfen. Nicht immer waren die Wissenschaftsgipfel zu erreichen. Es fehlten die materiellen Voraussetzungen, und in einigen Disziplinen redeten Leute mit, die es besser nicht getan hätten. Aber Klinkmann hatte hervorragende Lehrer, national wie international, darunter den "Giganten in der Medizin, Willem Kolff, den die Amerikaner unter die 100 bedeutendsten Persönlichkeiten ordnen".

Für Klinkmann gab es immer nur eine Wissenschaft, weder kapitalistisch, noch sozialistisch. Sein Staat sah das zwar anders, aber das war für ihn kein Grund, den Studienaufenthalt in Amerika als günstige Gelegenheit zum Verlassen der DDR zu nutzen. Was man ihm nach der Wende vorwarf. Er wollte Kranken dienen. Das hatte er von den großen Medizinern gelernt. Einschränkungen daran lässt er nicht gelten. Auch wenn die nach der Wende für ihn vieles leichter gemacht hätten. Es hieße bereuen, dass moderne Medizin-Methoden praktiziert wurden, um in der DDR Leben zu retten. "Wäre das christlich?" Klinkmann ist kein Nostalgiker, aber auch keiner, der sich eine Widerstands-Legende zulegt. Aufgefangen von der internationalen Science community, ist er heute in der Lage, positiv über seine Erfahrungen zu reden: "Wenn Sie so wollen, habe ich durch die Behandlung zu Hause internationale Anerkennung erfahren, die ich vielleicht sonst nie erhalten hätte."

Mecklenburg, die stille, wellig fließende Landschaft zwischen den riesigen Seen, beherbergt einen besonderen Menschentyp: Ausgeglichen, selten impulsiv, mit einem ruhigen, klaren Blick. Keine Schwärmer. Sie sind von jener Verlässlichkeit, die Vertrauen schafft. Was einer von dort sagt, ist mit Bedacht vorgetragen, was er tut, hat Hand und Fuß, und er erwartet dasselbe von anderen. Klinkmann ist unverwechselbar Mecklenburger, gestärkt durch Untergang und Wiederauferstehen. Und er sagt: "Damals wie heute brauchte man Verbindungen zur ›Macht‹ oder zum ›Geld‹, um etwas zu erreichen. Modernes ist anders nicht aufzubauen." Es ist Leuten wie ihm zu danken, dass Mecklenburg-Vorpommern seinen Ruf als Urlauberregion auf medizinische Erholung ausdehnen konnte: Er ist Aushängeschild und Vertrauensperson, allerdings nicht Gewinnbeteiligter der Kliniken. Ihm geht noch immer Gemeinsinn vor Eigensinn. Insofern untypisch. In den von ihm mit verantworteten Bereichen ist der Standard hoch. Die Reha-Klinik in Klink, ein Komfortbau an den Ufern der Müritz, in der einer Welle nachempfundenen Architektur, bietet Transplantierten und anderen Patienten alles, was ihrer Gesundheit dienen könnte.

In den emotionsgeladenen Monaten nach der Wende stand er an die Spitze der Akademie der Wissenschaften der DDR, gerade in dieses Amt gewählt. Er bemerkte zu spät, das alles, was er in seiner neuen Funktion vereinbarte, besprach und mit den entsprechenden bundesdeutschen Stellen in Verträge goss, gar nicht galt. Es diente lediglich der Beruhigung. Entschieden hatten längst andere. Intervention war in diesem Puzzle auf "offizielle" Wege verbannt, die labyrinthartig ineinander geschachtelt das Ziel hatten, den Probanden so lange laufen zu lassen, bis ihm die Luft ausging. Das nicht rechtzeitig bemerkt zu haben, kann sich Klinkmann bis heute nicht verzeihen.

"Wir dachten, wir könnten der Krümel Hefe sein, den eine vom Reformstau geplagte, eingefahrene Wissenschaft gut gebrauchen kann." Aber die meisten Akademiemitglieder fanden sich mit Entlassungsschreiben wieder, ausgefertigt vom Vertreter einer staatlichen Institution. Nach dem Rechtsverständnis des vereinten Deutschland eigentlich unwirksam. Statt zu klagen, warteten die Betroffenen ab. Trotz eines vom Max-Planck-Instituts erstellten Gutachtens, das die Auflösung der Akademie ungültig nannte, trotz einer gutachterlichen Äußerung eines ehemals am Bundesverfassungsgericht tätigen Richters, der die Rechtsauffassung der DDR-Akademie von ihrem Weiterbestand, zumindest in Form der Gelehrten-Sozietät, durch den Einigungsvertrag gewährleistet sah.

Das Ende der Akademie der Wissenschaften, dieses Forschungskonzerns der DDR, war politisch gewollt. Nicht einmal in Form der "Leibniz-Gesellschaft" sollte der Verbund fort existieren, obwohl die "notwendige politische Säuberung" garantiert wurde. Es gab kein Interesse an Konkurrenten um Forschungs- und Drittmittel. Zwar existiert die "Leibniz-Gesellschaft" weiterhin, sie vereinigt noch heute ehemalige Akademie-Mitglieder, auch Klinkmann gehört dazu, aber Geld und damit Forschungskapazität hat sie nicht. Die DDR-Biografien ihrer Mitglieder seien irreparabel belastet, hieß es.

Berichte über "Gräueltaten" der DDR-Medizin tauchten auf, angefangen beim angeblichen medizinische Missbrauch von Frühgeburten, über Organtransplantationen, entnommen finstersten Science-fiction-Phantasien. Klinkmann stand gelähmt vor der Tatsache, dass solche Horrorbilder sensationslüstern konsumiert wurden. "Ich hatte schließlich Verantwortung gerade auf diesem Gebiet. Wer einem Arzt wie mir nachsagt, er habe Dialyse-Patienten sterben lassen, um ›bessere‹ Patienten zu bedienen, kann nicht annehmen, dass ich das einfach wieder vergesse."

Klinkmann beharrt auf der Feststellung, dass die DDR lange vor entsprechenden Regelungen in der Bundesrepublik ein Transplantationsgesetz hatte, das sich an den internationalen Gesetzen orientiert: Hirntod als Voraussetzung einer Organentnahme. Er war damals Präsident der Internationalen Dialyse- und Transplantationsgesellschaft. Gewählt, obgleich er aus der DDR kam, in freier Wahl, 1982-84 und wieder 1986-88. Auch das galt nach der Wende nichts.

Bis heute macht er die Erfahrung, dass einer von östlicher Seite, der an einer gemeinsamen Zukunft mitwirken will, aber nicht bereit ist, seine Ost-Biographie zu verdrehen, noch immer nicht willkommen ist. Bei einer Talkshow, zu der er vor ein paar Wochen geladen war, wurde ihm wieder einmal vorgehalten, alles, was er zur Zukunft sage, sei Ablenkung von dem, was er in der DDR "getan habe". Man verlange Entschuldigung! Das läuft für ihn auf Dämonisierung hinaus. Es bedeutet die Verweigerung eines sachlichen Dialogs.

Inzwischen weiß Klinkmann aber auch, dass man sich darüber hinwegsetzen kann, wenn man den Wert des eigenen Wissens richtig einschätzt und seine Fähigkeit zu kämpfen reaktiviert. "Das wurde an DDR-Universitäten nicht gelehrt, und auch die Studenten von heute lernen es nicht, aber es ist das A und O des Erfolges: Selbstvertrauen." Denn: "Unsere Wahrheit ist nicht wahrer als die der anderen. Solange zwei Betroffene miteinander verhandeln, hat keiner wirklich recht."

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