Vielleicht ist das ein ganz wichtiges Merkmal von Kunst: verstörend zu wirken. Der Betrachter liest, schaut, hört wie gewohnt und nimmt dennoch anders als bisher wahr. So als wäre der grüne Baum plötzlich weniger grün, die Rinde gerissen und unter der geschundenen Außenhaut schimmere schon sein Ende. Bekanntes wird fremd, verlangt einen zweiten Blick. "So habe ich das noch nie gesehen", sagt man, wenn einem die anderen Dimensionen bewusst werden. Ein Text, eine Musik, ein Bild zwingen den Betrachter in eine andere Position. Kommt eine veränderte Stimmung, ein verwandelter Raum hinzu, ist es, als benutze man eine andere Linse.
Es gibt Fotos, die genau so sind. Die den Blick schärfen, Dinge sichtbar machen, die das eigene Auge so bislang nicht gesehen hat. Seit geraumer Zeit hat sich auf diese Weise Fotografie einen Platz inmitten der "alten" Künste erobert. Nicht unbedingt die, die Familienalben füllt (obwohl auch dort so ein Foto enthalten sein kann), wohl aber die einiger Berufsfotografen.
Es gibt Fotoserien, die ganz anderes wollten und zu eben solchen Zeichen wurden. Da funktioniert nicht das Einzelbild, sondern die Häufung. Wer zum Beispiel die Absurdität der Informationspolitik in der DDR beschreiben will, wird früher oder später auf die Fotoserien nach dem Rundgang der DDR-Regierenden während der Leipziger Messe stoßen: Von Jahr zu Jahr mehr Fotos der immer gleichen Art auf den Seiten der Tagespresse: Erich Honecker im Gespräch mit... Immer die gleiche Pose, immer das gleiche Lächeln, immer die gleiche Handbewegung, immer die gleiche stereotype Bildunterschrift. Der Normalleser in der DDR überblätterte sie. In ihrer Häufung und penetranten Gleichheit können sie heute fast wie ein Stilmittel wirken, mit dem eine erstarrte Gesellschaft bloß gelegt werden sollte. Sollte sie nicht. Aber die unendliche Wiederholung identischer optischer und verbaler Signale schläferten erst ein, wurden dann belächelt, machten schließlich wütend und mobilisierten zu Protest. Obwohl ungeplant, wurden sie zu Sinnbildern für Fehlsteuerung und Zukunftslosigkeit und liefern damit bis heute die sichtbare Untermauerung für die Notwendigkeit einer Veränderung. Selbst wenn man in Rechnung stellt, dass Fotografie durchaus Illustration sein darf, keineswegs in jedem Fall in die Nähe der Kunst rücken muss und als Abbild des Geschehens gerade in der Tagespresse wichtig und legitim ist, der nachträglichen Deutung bleibt sie ausgesetzt, wie jeder Text, jede Melodie, jedes Bild.
Der Sonntag, eine der Vorgängerzeitungen des Freitag, der Kulturpolitik der DDR verpflichtet, blieb durch seinen Wochenstatus von derlei dokumentierenden fotografischen Verpflichtungen verschont. Was nicht heißt, dort hätte nur Kunst die Seiten bestimmt. Es gibt das Foto, das nichts anderes als Dokumentation ist, eine Art Beleg für eine Veranstaltung, Zeugnis von einem Ereignis, Eindruck von einer Inszenierung auf den Bühnen des Landes. Und manchmal auch darüber hinaus, auf den Bühnen der Welt. Es gibt aber auch Fotoserien, die des Guten zu viel tun und nur haarscharf am Personenkult vorbeischrammen - von Künstlerkongressen beispielsweise, wenn sich der Minister mit XY trifft.
Es gibt eindrucksvolle Dokumente vom zerstörten Berlin. Denn seit Gründung der Zeitung 1946 fotografierte eine kleine, kaum anderthalb Meter große Person für die Zeitung: Eva Kemlein, Jüdin, die im faschistischen Berlin, in Kellern versteckt, von Weißkohl notdürftig ernährt, illegal lebte und überlebte, nichts außer ihrer Leica rettete und, so oft es ging, fotografierte. Sie hat ihre Wege über Schutthaufen dokumentiert und die ersten Bemühungen, die Trümmer zu räumen und später ihre Wege zwischen den Sektoren, durch die Mauer, ein Leben lang zwischen Ost und West unterwegs. Sie suchte im Trümmerstaub nach den Zeichen des Neuen, die Wiederbelebung der Kunst war so ein Zeichen. Sie fotografierte bei den ersten Proben, bei den Premieren so ziemlich aller Theater im Nachkriegs- Berlin. Vierzig Jahre lang, es fehlt kaum eine. Und immer in Ost wie West.
Vielleicht ist sie ja die Patronin für alle die, deren Leben ohne eine Kamera nicht denkbar wäre. Deren Auge sieht, sobald die Linse davor geschaltet wird. Dann werden die Zeichen sichtbar, die etwas Zerfallendes hinterlässt, die Spannungen, die entstehen, bevor ein Keim Neues verkündet. (Ihr Nachlass gehört heute zum Bestand der Akademie der Künste.)
Genau solche Momente zu erfassen, macht Bilder zu Ikonen. Sibylle Bergemann, nur wenig größer als Eva Kemlein, sind solche Fotos gelungen. "Mich interessiert der Rand der Welt", sagt sie "nicht die Mitte. Das nicht Austauschbare ist für mich von Belang, wenn etwas nicht ganz stimmt in den Gesichtern oder Landschaften". So etwas kann man nicht arrangieren, nicht inszenieren. Das braucht den Blick, Zeit und Gelegenheit. Ein Grund, warum auch sie ohne Kamera nicht denkbar ist. Fotografieren ist für sie Sein, einen Punkt wählen, sich von da aus mit der Welt in Beziehung setzen. Andere Menschen versuchen das über Stimme, Präsenz, Macht, manchmal auch Gewalt. Bergemann ist leise, aber beharrlich. Sie debattiert nicht, sie kommt wieder. Solange, bis der andere das Besondere erkennt.
Irgendwann gegen Ende der sechziger Jahre (1967, um genau zu sein) tauchte sie in der Redaktion des Sonntag auf. Über den Schultern zerrte eine viel zu schwere Umhängetasche, unter dem Arm hielt sie eine große Mappe. Sie legte ihre Fotos auf einem Schreibtisch aus, einem bestimmten Tisch, nicht dem des Bildredakteurs und wartete ab. Vielleicht, weil sie jemanden kennen musste, um Vertrauen zu fassen, vielleicht, weil ihre Auffassungen von Fotografie von vornherein andere als die tradierten Wege gingen und sie sicher sein wollte, dass ihr Anliegen verstanden wurde. Sie hat das Handwerk nie studiert, jedenfalls nicht im herkömmlichen Sinn, sie hat ihren Lehrer in Fotografie, Arno Fischer, zum Lebensgefährten gewählt. Was heißt da noch Autodidaktin?
Sie machte Fotos von den ersten Plattenbauten. Aufgehäufte Trümmer der zerstörten Stadt waren mit Erde bedeckt worden und zu einem erklecklichen Berg zusammen gekarrt, auf dem Büsche und Bäume die ersten Wurzeln trieben, aber keine Sicht versperrten. Von dort herab schaute sie auf gerade entstandene Bauten, die weitab von urbanem Leben zu liegen scheinen. Konterkariert das in der Ausstellung, die jetzt in der Akademie der Künste in Berlin zu sehen ist, mit dem Blick ins Karree stehen gebliebener Brandmauern eines Hinterhofs, in dem ein Kind die selbst gebastelte Maske vors Gesicht hält. Kein Hauch von Denunziation, aber auch kein Aufbruch, stattdessen Abbilder notwendiger Überlebensstrategien. Reste von Jugendstilmalereien aus Berliner Treppenhäusern deuten auf verlorenen Glanz. Eine Stadt, in der gelebt, nicht geglänzt wird, die eine Struktur sucht, Experimente finden nicht statt.
Ihr lakonischer Stil, der den genauen Ort, die exakte Zeit, die Erklärung für Personen und Interieur nicht neben die Bilder stellt, sondern über Stimmung integriert, ermöglicht dem Betrachter eigene Reflexionen. Die Beziehungen zwischen Fotografin, Dargestelltem und Betrachter entwickeln eine eigene Kraft. Für den Sonntag bedeutete das, die herkömmliche - von vielen bis heute bevorzugte Methode: Thema, Foto als Illustration, Überschrift, Unterzeile etcetera - zu durchbrechen. Ein Bild aus der Schule Fischer, Bergemann fügte dem Thema einen wesentlichen Aspekt hinzu. Es wurde ein ganz eigener Teil des Beitrags, im besten Fall Diskussion. Zugegeben: Nicht immer unter dem Beifall von Redaktion und Lesern.
Bis heute ist die Methode, dem Bild lediglich Land oder Stadt, in dem es entstand und das Jahr zuzuordnen, für Zeitungen umstritten. Der Sonntag verdankt ihr sein unverwechselbares Gesicht, das in wesentlichen Teilen bis heute auch im Freitag wirkt.
Sibylle Bergemann hat den Sprung in die erste Riege deutscher Nachwendefotografinnen geschafft. Zeitungen, mit ihrer verminderten Fotoqualität, sind nicht mehr ihr Revier, sie arbeitet für Geo, Stern und andere. Inzwischen auch in Farbe, das mindestens ist eine Korrektur, ein Zugeständnis an den Markt. Die Schwarzweiß-Fotografie, wie in der DDR bevorzugt, wurde mit Theorien belegt und als Teil eben jenes besonderen Stils mit Zehen und Klauen verteidigt. Die Ausstellung, fünfzehn Jahre danach, zeigt, der Umgang mit Farbe muss keine einzige Besonderheit dieser Art Fotografie außer Kraft setzen. Im Gegenteil: Er unterstreicht das Einmalige, Andere. Die Bilder der Akteure von Rambazamba zum Beispiel schweben zwischen Groteske und Ernsthaftigkeit, Schönheit und Absurdität, schwarz-weiß ließe solche Nuancen nicht zu. Die Moderne in Afrika - eine Bude mit den Symbolen des westlichen Wohlstands inmitten der Wüste - das Knallige, Aufgesetzte und dennoch hoffnungsgetränkte wäre ohne Farbe nicht mitzuteilen. Der Blick vom Rand in die Mitte des vereinigten Deutschlands findet sich nur selten. Sie ordnet ihre Bilder inzwischen lieber global: Paris, Hollywood, Kasan und mittendrin die gestutzte Seebrücke von Sellin. Der gleiche morbide Charme der Kulisse.
Eine Bildserie ragt, jedenfalls für Zeitzeugen aus der DDR, über alle anderen hinaus: Die der Montage des Marx-Engels-Denkmals in Berlin. Die halbierten Patenonkel des Sozialismus, deren Beine wuchtig in den Boden rammen, sind (noch) kopflos. Daneben schwebt der nach vorn gekippte Oberkörper von Engels am Seil. Damals heiß umstritten. Heute wirken solche Fotos wie frühe Signale von einer Republik, die an ihren Zielen scheitert, deren Ideale am Himmel hängen bleiben, ohne geerdet zu werden. Eine Vision, ein nicht eingehaltenes Versprechen auf Zukunft.
Regina General war von 1962 bis 1989 Redakteurin des Sonntag.
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