Die Beziehungen zwischen SED und SPD haben sich wegen des mehr oder minder gewaltsamen Ablebens der einen Partei erledigt. Was also kann ein Buch, das den Annäherungsprozess der beiden nachzeichnet, heute noch leisten?
Inzwischen historisch gewordene Fakten sichten und interpretieren? Natürlich. Sie so umfassend wie möglich in den Kontext damaliger Umständen einordnen? Auch das. Vor allem aber will es den geistigen Hintergrund einer Entwicklung nachzeichnen, in der die festgefügten, scheinbar monolithischen Strukturen des sozialistischen Systems erstmals auch im eigenen Lande nachgefragt und Stück für Stück differenzierteren Sichten unterworfen wurden. Aus damaliger Sicht mit dem Ziel, einen lebbaren Sozialismus zu befördern.
Rolf Reißig, Autor und einer der Hauptbeteiligten des gemeinsamen Papiers Der Streit der Ideologien und die gemeinsame Sicherheit von 1987, begründet die Entstehung des Buches heute so: Er wollte herausarbeiten, dass "der Dialog dort am nötigsten ist, wo er unmöglich scheint". Deshalb beschreibt er die politischen Voraussetzungen, Schwierigkeiten, taktischen Winkelzüge, kleinen und großen Manöver um Formulierungen und Anteile der Kontrahenten möglichst genau, deshalb bezieht er die Diskussionen in beiden Ländern, vor allem aber in den beiden Parteien so breit ein, unter Sichtung aller inzwischen verfügbaren Akten. Deshalb führt er die Verästelungen an, die das Papier in die einzelnen Zweige der DDR-Gesellschaft hinein treibt. (Unter anderem die Debatten in Aufbau-Verlag und Sonntag über die Möglichkeiten von Veröffentlichungen, Einbeziehung neuer Autoren.) Zwar ist auch die damals unüberwindlich scheinende Ost-West-Konfrontation passé, aber Konfrontation ist nach wie vor eine, wenn nicht die bestimmende Existenzform der Menschheit. Es gibt keinen Zeitpunkt, zu dem das deutlicher wäre als am 11. September. Natürlich maßt Reißig sich keine Kompetenz für die Lösung derartiger heutiger Menschheitsprobleme an, aber sein Buch hat einen über die Zeiten aktuellen Ansatz: Den Kontrahenten in jeder Situation ernst nehmen, das Anderssein zunächst akzeptieren, auch noch der kleinsten Spur von Gemeinsamkeit nachgehen, daraus Debatten entwickeln und so den Prozess der Meinungsbildung beeinflussen. Die Ergebnisse werden sich unterscheiden. Aber selbst im schlechtesten Fall ist dieses Vorgehen jedem anderen voranzustellen.
Dieses Buch wird, so wie die Debatte seinerzeit, kontrovers beurteilt werden. Bis heute prallen die Meinungen über Sinn und Nutzen der damaligen Gespräche hart aufeinander: Damit habe die SPD der SED in den letzten Phasen ihrer Existenz Legitimation verschafft, argumentierten CDU/CSU nach der Wende wiederholt mit dem Hinweis auf die Gefahr der Volksfront und rot-roter Kungelei. Ohne jede Not sei durch die SPD der Prozess der Auflösung des sozialistischen Systems verzögert worden. Der Osten habe aufgeben müssen, weil seine wirtschaftlichen Potenzen aufgebraucht, das Wettrüsten ihn in die Knie zwang, heißt es. Was dreierlei unterschlägt. Zunächst: Gerade in den ärmsten Staaten der Welt werden die Waffen besser gepflegt als die Menschen, Kriege mit großer Brutalität bestimmen den Alltag (Ruanda, Afghanistan, Indien/Pakistan...) Dann: Die Waffenarsenale der verschiedenen Länder des sozialistischen Lagers waren vollgestopft. Selbst eine neue Stufe der Hochrüstung hätte in einer zentralistisch gelenkten Wirtschaft sehr viel mehr Ressourcen mobilisieren können, als normalerweise mobilisiert worden sind. Mit Ausnahme Rumäniens nagte niemand am Hungertuch. Vor allem aber: Diese Argumentation tut so, als wäre das sozialistische Lager durch Intervention von außen, nicht aber durch den Unmut der eigenen Bevölkerung zu Grunde gegangen. Hunderttausende auf den Straßen, Bürgerbewegte, christliche Gruppen werden so ihres Anteils an der Geschichte beraubt. Eine Sichtweise, die vor allem Kanzler Kohl mit Blick auf seinen Platz in der Geschichte durchsetzen wollte. Und sie unterschlägt noch einen anderen Fakt: Wenn schon Stabilisierung angeführt wird, wären die von Franz-Josef Strauß beförderten Milliardenkredite allemal erheblicher gewesen als dieses Papier.
Reißig stellt die Auflösung des sozialistischen Lagers einschließlich DDR dagegen als Endpunkt eines Prozesses dar, in dem die Wahrheitsdefinition der kommunistischen Parteien ihre Überzeugungskraft eingebüßt und sich als variabel und veränderbar darstellte. Für große Teile der Bevölkerung, aber auch bis hinein in die Wissenschaftsgremien und Führungsetagen der SED, standen Dogmen zur Disposition, die öffentlich noch nie zuvor diskutiert worden waren. Sie hatten durch die von Willy Brandt initiierte neue Ostpolitik, durch den Grundlagenvertrag und die Unterschriften unter die Schlussakte von Helsinki Risse erfahren, die sich durch tägliche Erosion erweiterten. Der auf politischem Feld erreichte Zustand wurde (Günter Gaus überbrachte Honecker einen entsprechenden Brief wiederum von Willy Brandt) auf die Parteien ausgeweitet und durch die dazugehörigen Debatten - so etwas wie der saure Regen, der die Erosionsspuren erweiterte - vertieft, bis die Tropfen Sprengkraft gewannen. Dass gezinkte Karten im Spiel waren, die SED sich in einer Vorreiterrolle Richtung Vierter Internationale sah, es nicht wirklich um Annäherung von Positionen, sondern um Aushöhlung des jeweils anderen ging, ist für die Wirkung unerheblich. Tatsächlich wurde das Papier veröffentlicht, in der DDR sogar in großer und dennoch immer noch zu kleiner Auflage, gemessen an der Nachfrage. Und es wurde öffentlich diskutiert. Die später von der SED-Parteispitze gezogene Notbremse konnte daran nichts mehr ändern. Erhard Eppler, wie Reißig hauptbeteiligt an seiner Entstehung, nennt in seinem Nachwort zum Buch den Umgang der SED mit dem Dokument denn auch als Hauptgrund dafür, dass es zum Untergang der DDR beitrug.
Wirkungsgeschichte enthält immer auch einen Erkenntniswert. Dass Politik etwas mit adäquater Reaktion auf Umstände und Gegebenheiten zu tun hat, versteht sich von selbst. Dass der Erfolg von Politik durch Methodenvielfalt potenziert werden kann, lehrt uns unter anderem dieses Buch. Bis heute sind flexible Antworten auf neue Verhältnisse (vor allem in der gegenwärtige Politik der westlichen Länder) nicht gerade das Bestimmende.
Reißig hat in seinen voraufgegangenen Publikationen zum deutschen und europäischen Einigungsprozess (Die gespaltene Vereinigungsgesellschaft) immer wieder gerade diese Frage untersucht: Was war an den Reaktionen der Beteiligten neu, originell und damit auf bislang nicht da gewesene Weise tauglich, verfestigte Fronten aufzuweichen? Was ist falsch gelaufen und führte deshalb zu Ergebnissen, die neue Konflikte auslösten?
Sein neues Buch Dialog durch die Mauer ist deshalb auch mehr als eine Bestandsaufnahme dessen, was im Vorfeld der Vereinigung beider deutscher Staaten zur Klimaveränderung beitrug. Es inspiziert die Fundamente von Politik. Bei gediegener Festigkeit, so das Ergebnis, können aktuelle Herausforderungen, auf unkonventionelle Weise beantwortet, dem eigenen System weitgehende Vorteile verschafften.
Rolf Reißig: Dialog durch die Mauer. Die umstrittene Annäherung von SPD und SED. Mit einem Nachwort von Erhard Eppler. Campus-Verlag, Frankfurt-New-York 2002, 450 S., 29,90 EUR
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