Der Typ Sparzwangschule

ANONYM, UNÜBERSICHTLICH, MITLEIDLOS Mit den bitteren Erfahrungen an ihrer Gesamtschule sucht eine Lehrerin Wege, ein Bildungs- und Erziehungsinstitut neu zu beleben

Kichernde, rennende, ruhig in Gruppen herumstehende Kinder. Der Schulhof wirkt wie seit Jahrzehnten, nur um ein Mehrfaches größer als jene, auf denen frühere Schüler tobten. Eine riesige Fläche, eine unüberschaubare Zahl von Schülern, unmöglich, sie im Blick zu haben. Auch wenn Aufsicht führende Lehrer sich mühen. Jedenfalls in dieser Gesamtschule in der Berliner Mitte, die im letzten September noch einmal durch eine andere aufgefüllt wurde. 600 Schüler waren nicht genug, mehr als 200 sind hinzu gekommen. Öffentliche Träger müssen rechnen. Am Einzelobjekt. Gesamtrechnungen werden nicht aufgemacht.

Das Szenario in klassischen Gegenüberstellung: Lehrer auf der einen Seite, auf der anderen Schüler. Die ersten agieren - von den Strippen Lehrplan, wachsende Stundenzahl, Wissensvermittlung, Umstrukturierung - zwanghaft geführt, die anderen bauen weitgehend unbehelligt eigene hierarchische Strukturen auf - Vorbild Leinwandhelden -, in denen Druck, Gewalt und Unterordnung bestimmen. Zeiten, in denen Schüler Lehrer in die Konflikt-Schlichtung einbezogen, werden immer häufiger von "Schulgangs" durch "Züchtigungen" ersetzt. Brutal, mitleidlos: Betroffene sehen sich der "Macht" solcher Gruppen, die Angst von Mitschülern genießen und ungeniert ihren materiellen Vorteil suchen, allein gegenüber.

Die Realität Gesamtschule

Lehrer? "Die könnten doch sowieso nicht helfen", sagen die Schüler und kuschen. Sie drücken die geforderten 5 Mark Schutzgeld ab, sie tragen die Taschen, sie ziehen ihre Jacken aus ... "Wir müssten Vater, Mutter, Sozialpädagoge, Familienberater und Lehrer sein, alles auf einmal und gleichzeitig. Wir ahnen, wie die Strukturen von Angst und Gewalt um sich greifen, können es aber nicht nachweisen, weil wir sorgfältig separiert werden. Selbst wenn Lehrer nachfragen, bleiben viele der Drangsalierten stumm." Sagt Dagmar Ehrich, seit Jahren Lehrerin, auf eigenen Wunsch nicht verbeamtet, mit offenem Blick auf das, was Schule ist und was sie sein könnte. Lehrer erleben sich, ihrer Meinung nach, immer öfter als hilflos, weil durch Strukturen behindert, dafür aber in der eigenartigen Situation, von der Öffentlichkeit als faul, (die paar Stunden) und unfähig (erziehen die überhaupt noch?) oder überbezahlt (mittags zu Hause und dafür eine Menge Geld) wahrgenommen zu werden. "Dabei kenne ich keinen einzigen Lehrer, der tatsächlich nachmittags frei hätte." Bei einigen stärkt das den Willen, die Sparzwangschule als das teuerste Unternehmen aller Zeiten zu entlarven, bei anderen fördert es den Rückzug ins - für Beamte verordnete - Schweigen (siehe dazu auch rechts: "Zwei Drittel ...").

Je größer, desto billiger, stimmt als Grundsatz für Schulpolitik zwar kurzfristig, aber die Zahl derer, die sich selbst als Versager, als Ausgelieferte oder aber umgekehrt als Machtmenschen, die auch ohne Leistung an erstrebte Waren kommen, erleben, steigt, macht den Umgang mit der jungen Generation langfristig zu einer teuren Angelegenheit. Beide Kategorien werden im "normalen Leben" nicht einfach wieder eingepasst und störfrei funktionieren können. Das lässt sich inzwischen statistisch nachweisen: Die "Kosten" fallen später an, als Resozialisierungsmaßnahmen, Betreuung Gefährdeter, Knast ...

Dabei könnte Schule als Begegnungsstätte, in der Lehrer und Kinder oder Kinder untereinander auch außerhalb von Unterricht aufeinander zukommen, funktionieren. Aber wo sie zufällig oder gewollt existierte, wie in der "ehemaligen" kleineren Schule, in der Dagmar Ehrich vorher arbeitete, wurde sie als zu teuer zergliedert, umgeschichtet, eingemeindet, bis soziale Bindungen von selbst zerfielen oder zerstört waren. Halbwegs feste Bezugspersonen sind in der modernen Schule scheinbar überflüssig: "Ellbogen erwirbt man nicht, wenn einem die Probleme aus dem Weg geräumt werden", ist der zynische Kommentar. "Aber stellen Sie sich vor, Sie müssten mit ihrem schlimmsten Problem allein fertig werden, ohne Beratung oder immer wieder andere, fremde Leute damit belästigen. Selbst wenn Sie sich überwinden, gibt es keinen wirklichen Schutz. Sie würden aufstecken, wie die meisten Schüler."

Der Schultyp Gesamtschule - eigentlich modern und demokratisch - weil durchlässig gedacht, einer, der die Kinder nicht von Anfang an katalogisiert und einteilt in brauchbar und weniger brauchbar, führt sich so selbst ad absurdum. Er ersäuft sich in seiner Unüberschaubarkeit. Eltern, die ihren Kindern einen guten Start ins Leben ermöglichen wollen, suchen sich meist ein Gymnasium und entziehen der Gesamtschule so das einzige Potenzial, das sie als kinderfreundliche, weil auch späte Begabung fördernde Einrichtung und als soziale Bildungsstätte ausweisen könnte. Wenn Lernwillige zu früh ausgegliedert werden, verändert sich die Atmosphäre, das Lernen der Übrigen wird schwieriger. Anonymität erleichtert den Kindern, sich auszuklinken. Chancengleichheit bleibt papierne Floskel. Dass in Berlin die Zahl der Gesamtschüler zugunsten von Gymnasiasten dramatisch zurück gegangen ist, illustriert diese Aussagen.

Lehrer sind Gestalter von Unterrichtsstunden, in diesem Bereich allein verantwortlich, der Schulalltag aber wird fremdbestimmt: Für die Lehrer aus dem Osten zunächst von der Angst, nicht übernommen zu werden. ("Die war schon mal unbegründet", sagt Dagmar Ehrich, es sei so gut wie keiner einfach so entlassen worden.) Von den Anforderungen an einen Beamten, von wechselnden Schülerzahlen - ihre Gesamtzahl ist ausschlaggebend dafür, wie viel Lehrer arbeiten dürfen, nicht der Bedarf in einzelnen Klassenstufen und auch nicht die Spezialisierung. Kurssysteme zwingen Schüler in Bereiche, in die sie nicht unbedingt wollen, Interessen können nur so lange berücksichtigt werden, wie das Angebot mit ihnen übereinstimmt. Folge: Leistung bleibt auf der Strecke, wenig Zeit für intensive Gespräche mit Schülern, die Debatten sind selten offen. Gründe für Fehlentwicklungen können Lehrer zwar erfragen, aber nicht ausdiskutieren. Hausnummern reichen der Öffentlichkeit: So und so viele latent durch rechtes Gedankengut gefährdet. Dass dieselben Schüler Angst vor Glatzen haben, mit denen nichts zu tun haben wollen, geht unter. Keine Zeit, um den Widerspruch aufzudröseln, die Ursachen zu ergründen und erzieherisch anzusetzen. Keine Zeit und kein Geld. Stattdessen wird in spektakuläre Einmalaktionen investiert: "Der Erfolg solcher Aktionen wird überschätzt."

Das Modell Dänemark

Trotzdem betont Dagmar Ehrich: "Ich bin immer noch gern Lehrerin. Und ich bezweifle nicht, dass Schule den Entwicklungen der Gesellschaft angeglichen werden muss. Modernes Wissen, vermittelt mit Hilfe modernster Technik ist wichtig, aber nicht wichtiger als die Einübung von Sozialverhalten, das nicht einfach darwinistische Erfahrungen kolportiert?" Sie und einige Kollegen hatten ein Modell entwickelt: Es sollte eine öffentliche nach dem üblichen Schlüssel finanzierte, selbstständig agierende Schule sein, geführt von Schulleiter und Geschäftsführer. Ein Modell, das in Dänemark funktioniert und den Nachweis von verblüffend hoher Effektivität erbracht hat. Sogar neue Schulgebäude und die Einstellung von Lehrern bei akutem Bedarf waren möglich. Kern: Schaffung eines Bereichs, Arena genannt, in dem die Schüler an einem Tag in der Woche vier Stunden gemeinsam (alle Altersstufen von 1 bis 10) an Projekten -Theatergruppen, Chören, Werkstätten - arbeiten sollten; die Klassenstufen 1 bis 3 von vornherein zusammengefügt. (Eine Pädagogik, die auf Peter Petersen zurückgeht, in Jena bis zur Nazizeit hervorragende Erfolge hatte und sofort nach der Wende wieder belebt wurde. Eine zweite Schule gibt es im Berliner Stadtbezirk Neukölln.) "Schule als sozialer Verbund. Wissen und Verhalten werden ›abgeguckt‹. Eine Anstrengung für Lehrer, aber für die meisten Kinder ein Vorteil. Die, die langsamer lernen, können mit den kleineren mitmachen, Kinder, die schneller sind, mit den größeren ... Wiederholung erfolgt ständig. Die Älteren zeigen, wie man bestimmte Techniken handhabt, die Jüngeren erhalten den Lerneifer, das Staunen über Neues. Die Kinder werden erst getrennt, wenn aufeinander aufbauende Kenntnisse es nötig machen ..." Dagmar Ehrich malt die Vorzüge aus, argumentiert detailliert, fühlt sich als Anwältin für Schüler wie Lehrer. "Schule muss für alle Kinder da sein", sagt sie, "und Lehrer sind dafür verantwortlich, dass sie es tut". Erst einmal wurde nichts daraus. Sie bekamen weder Haus noch Geld, trotz des Beifalls von Gruppen und Verbänden bis hin zur Industrie, denen das Modell optimal erschien. Aber Ehrich sagt auch: "Wiederholung ist die Mutter des Erfolgs. Wir haben nicht aufgegeben."

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