Die Entdeckung des Mückenschweins

Alltag In Stralsund versuchen junge Leute, mit Kultur gegen Rechts anzuarbeiten

"Lange Nacht im Speicher". Dank Leuchtfarben hat sich eine ganze Theatergruppe in Lichtpunkte verwandelt, ein pantomimisches Spektakel in einer schwarzen Welt. Jeder Lichtpunkt stellt einen Reflex auf den Umgang mit Außenseitergruppen dar - erdacht, gespielt, umgesetzt von einer Behindertentheatergruppe. Maschinen werden wie von Geisterhand bewegt und spucken phantastische Gebilde aus, heben, senken irgendwelche Teile und verstummen schließlich, bevor an anderer Stelle zuerst ein Geräusch, dann ein Geruch nach Maschinenöl und schließlich ein neuer Lichtpunkt entsteht, der sich anders bewegt.

Wie andere lange Nächte auch, versteht sich die lange Nacht im Stralsunder Speicher als Blick auf die Visitenkarte: Es geht um die Entdeckung der Gattung Mückenschwein plus Öffnung eiserner Türen vor Glaswänden im alten norddeutschen Backsteinrahmen. Jährlich wiederkehrende Werbung für ein Haus, das Aktivitäten gegen Rechts mit dem Spaß an Kunst verbinden will.

"´Mückenschwein´ - komisches Wort, irre und doch irgendwie plausibel. Was soll das sein? Denk Dir was. - Wildes Schwein, das statt Rüssel so etwas wie eine Nadel auf der Nase trägt. Nicht schlecht. Kann es auch sein. Der Name ist aber einfach so entstanden: Bei unserem ersten Versuch, über eine Schule mit Kindern in Kontakt zu kommen, hatten wir Ton dabei. Einige Kinder spielten damit rum und raus kamen fast immer unförmige ovale Körper, Schweinen ähnlich. ‚Rosa müsst ihr das jetzt noch anstreichen, einen Ringelschwanz und Beine formen, dann ist das ein Schwein´, sagte Frau Müller, die Lehrerin. ‚Meins soll aber Streifen haben und bunt sein´, widersprach eins der Kinder. Und meins ist eine Mücke´ sagte ein anderes beleidigt. Seither war klar: Wir vom Förderverein Jugendkunst e.V., wollen die unmögliche Kombination. Das, was Frau Müller nicht kennen kann".

Leiter Fred Lautsch, dieser große Mensch, der mit seinem Dreitagebart aussieht, als käme er gerade vom Sportplatz, lacht. Er erzählt diese Geschichte zum x-ten Mal. Und ist stolz, dass nicht einfach "aha" gesagt wird, sondern "unmöglich, inwiefern?". "Kindliche Phantasie kennt keine Grenzen, Erwachsene finden dann vieles irrational und korrigieren. Wir korrigieren nicht. Wir lassen die Kinder in einen Käfer schlüpfen, mit den Bäumen reden, in einem Stein ein Wesen entdecken, zur Sonne fliegen, eine Maschine nach den Menschen befragen, die an ihr gearbeitet haben, bei uns dürfen sie das Böse überlisten oder ihm ein Gesicht geben." Um ihre Phantasie anzuregen, geben die Betreuer ein Thema vor. Was daraus wird, meint Fred, ist jedermanns eigene Sache - ob einer ein Stück schreiben, lieber etwas in Ton formen oder malen will. Eine Bewertung findet nicht statt. Es geht nicht um Wettbewerb. Es geht darum, den Kindern und Jugendlichen Vertrauen zu geben, "hier wirst Du anerkannt, alles, was du denkst, ist gut aufgehoben, darüber wird weder gelacht noch wird es zerpflückt." Die Kinder und Jugendlichen können Geschriebenes selbst setzen, drucken, binden, ein hauseigener, kleiner Verlag vertreibt die Bücher sogar. Sie bereiten ihre Zeichnungen für den Siebdruck vor, lernen, wie man Farbe aufträgt, üben ihre Stücke ein und spielen sie anderen vor.

Der Speicher, das Haus, in dem die Mückenschweine arbeiten, liegt direkt hinter der Stadtmauer der alten Hansestadt Stralsund. Und war gar kein Speicher, sondern eine Dampfmühle, was die dicken Balken zwischen den drei Stockwerken erklärt. Belastbar. In jeder Hinsicht. Und tipptopp renoviert. "Das stand nach 1990 leer, und wir haben das Haus besetzt, hergerichtet und angefangen, darin zu arbeiten. Erstmal geduldet", sagt Percy Penzel, ein anderer Mitstreiter, und Fred ergänzt: "Inzwischen arbeiten wir in diesen Räumen mit vielen anderen Vereinen zusammen, vom Kreisdiakonischen Werk bis zu den Pfadfindern. Vor ein paar Wochen hat Ministerin von der Leyen das Haus zum Mehrgenerationenhaus erklärt". Fred nimmt sich Zeit und erklärt, was wann wo passiert, wo die Maschinen herkommen, vom Schrott die eine, die Druckmaschine aus den Restbeständen einer abgewickelten Firma. Der Fahrstuhl ist von Graffitisprayern mit Karikaturen versehen. "Über den Eingangsbereich haben wir uns mit den Sprayern, die schon vor uns gegen die kahlen Wände angearbeitet haben, abgestimmt, dann haben wir sie machen lassen, die passen jetzt selber auf, dass kein neuer Tag dazwischen gerät". In den Innenräumen konterkarieren Glaswände die alten schweren Eisentüren und vermitteln Durchschaubarkeit und Weite ohne Schranken.

"Kommt rein", bittet Sylvain Mazas in einen Besprechungsraum. Sylvain aus Frankreich, der bei den Mückenschweinen ein Praktikum gemacht hat, inzwischen in Berlin studiert, aber nicht loslassen will, treibt ein bisschen zur Eile. Er muss heute noch zurück. Mehrere Mückenschweine debattieren über ein Projektwochenende, das sie in Wolgast planen. Das Städtchen klebt an den Fußsohlen von Usedom und ist nicht gerade für Gegenkultur bekannt. "Wir müssen an die Perspektiven ran", begeistert sich Sylvain. "Wer zu uns kommt, soll raus aus seiner Welt, mal ganz anders denken". In Hyroglyphen zum Beispiel. "Hört sich verrückt an. Aber unsere Erfahrungen damit sind gut." Die Aufgabe eines früheren Projekts war, dass Kinder afrikanischen Gleichaltrigen die eigene Stadt erklären sollten. "Deutsch reden ging also nicht", sagt Sylvain. Auch bei ihm nicht. "Ich habe damals kein Wort Deutsch verstanden und musste alles vormalen oder -spielen" Die Kinder hätten es toll gefunden, sie entwickelten Zeichen und Formen, vereinfachten sie und freuten sich, wenn die anderen es verstanden. Was die Veranstalter erstaunte: Der Blick der Kinder auf ihr Umfeld veränderte sich. Sie sahen mehr und strukturierten, was sie sahen. "Wir zeigten ihnen dann Fragmente ältester Schriften, die auf dem afrikanischen Kontinent bis heute zu finden sind, das verblüffte sie. Da entdeckten sie nämlich Ähnlichkeiten, und dann "lasen" sie die gezeichneten Berichte über das Leben damals."

Am Anfang aller Arbeit war Lichtenhagen, erzählen die Mückenschweine, da waren die Bilder von grölenden fremdenfeindlichen Horden, die zu Beginn der Neunziger über das Fernsehen in jedes Wohnzimmer fluteten. "Wenn man denen das Feld überlässt, kann man nur noch auswandern. Das waren damals unsere Altersgenossen!"

Sie schworen sich, dagegen zu halten. "Die Jugend Mecklenburg Vorpommerns, das waren schließlich auch wir." Fred und Jule und Percy suchten Ursachen, analysierten die Situation in der Stadt, lasen, was über Eltern, Erzieher, Schulen bekannt wurde und entwarfen ihr Gegenkonzept. Ohne großen Beifall zunächst. Die Stadtväter setzten eher auf Strafe als auf Kultur. Vertrauen, gut und schön, aber doch nicht bei solchen Typen, hieß es. Aber Fred, Jule und Percy meinten, es müsse in ihrer Küstenstadt doch mehr geben als dieses Misstrauen. Da gab es doch auch das Erbe der Hanse mit ihrem Handel zwischen Ländern und Kontinenten und ihrer Offenheit. Sie waren überzeugt davon, dass man Orte im öffentlichen Raum schaffen müsste, zu denen Jugendliche und Kinder sich hingezogen fühlen, weil sie sicher sein könnten, da ist einer, bei dem treffe ich auf offene Ohren, der hört zu. "Und wenn ich Blödsinn rede, dann flippt der nicht aus", sagen die Kinder und meinen ihren Betreuer. "Da kann schon mal rechtslastiger Stuss dabei sein".

Fred weiß, dass er damit nicht jedermanns Meinung trifft. Aber für ihn gilt: Auch dann zuhören und rausfinden, wo die Ursachen sind. "Manchmal ist das die Stimmung in einem Ort, an dem auch die letzte Arbeitsmöglichkeit weg gebrochen ist", manchmal die Familie, die Freunde. So einem jungen Menschen dann ein Praktikum oder eine Lehrstelle anzubieten, ihn einzubinden in jede Aktion, die er gut findet, das hilft mehr als Worte. Und wenn die "Tagträume", so der Titel selbst gefertigter Bändchen, die nunmehr seit zehn Jahren immer wieder von den Kindern und Jugendlichen zusammengestellt werden, am Anfang noch Episoden enthielten, die nach rechts tendierten (und manchmal ganz erschreckende Blicke in einsame Kinderseelen zuließen), dann folgte schon damals keine Standpauke, lediglich erklären sollten die jungen Autoren. Und sie sollten die Texte setzen, wie in Zeiten, in denen es noch keinen Computer gab. Mit Setzkasten, spiegelverkehrt, Zeile für Zeile. "Das macht Spaß, ist aber mühsam. Da hatten sie Zeit zum Nachdenken", sagt Fred. Öffentlich machen wollten viele ihre Meinungen dann doch nicht. Und in den späteren "Träumen" wurde schon anderes reflektiert. "Manche hängen noch immer deutsche Fahnen ins Fenster, aber rechtsradikal ist keiner von ihnen".

Auf der Straße gehen drei Clowns. Was nach Kinderbelustigung aussieht, ist "Volksvermessung" a la Mückenschwein. Jeder hat ein Bandmaß, eine große Liste, eine Kamera und einen riesengroßen Stift. Umständlich höflich gehen sie auf die Passanten zu, bitten darum, sie einmal ausmessen zu dürfen. Die meisten lachen, lassen sich darauf ein, strecken brav den Arm aus, halten den Kopf gerade, heben das Bein ... Erst als die drei auch noch Name und Adresse abfragen wollen, werden sie stutzig. Die biometrischen Daten seien geheim, versichern die Clowns und lassen Zettel plus Stift verschwinden.

Nicht jedem wird der zeitliche Zusammenhang zur Verschärfung der Antiterrorgesetze bewusst sein. Aber vielleicht bleibt ein bisschen Nachdenklichkeit.

www.mueckenschweine.de. Die nächste Lange Nacht im Speicher ist am 6. 9. 2008

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