Die Redaktion ist mehrmals umgezogen

Jubiläum I Wenn es den "Freitag" seit 15 Jahren gibt, dann auch, weil die Zeitung niemandem zum Munde redet

Eine Aufnahme aus dem September 1990. Die beiden Redaktionen haben gerade beschlossen, ab November zusammenzuarbeiten und aus den Blättern Volkszeitung und SONNTAG den Freitag zu formen. 14 Redakteure, mehr als es später je geben wird, haben ein Konzept erstellt. Die Zeitung soll 32 Seiten haben - und hat sie am Anfang auch - sie soll die Vorzüge ihrer Vorgänger vereinen, die Politik-Kompetenz der Volkszeitung, die für Kultur des SONNTAG. Vor allem aber nicht nur Fakten benennen, sondern auch Gefühle und Mentalitäten beschreiben. Der Freitag will Ost- und Westthemen paritätisch aufnehmen, keiner Seite Vorteile einräumen. Deshalb verzichten wir anfangs auf eine Chefredaktion, es gibt im turnusmäßigen Wechsel verantwortliche Redakteure für die jeweiligen Nummern, nicht mehr. Zu gleichen Teilen Ost- und Westjournalisten sollen hier arbeiten, dauerhaft. Unser selbstgewählter Auftrag, die entstehende neue Republik kritisch aus Sicht beider Seiten begleiten.

Der Freitag will eine in sich demokratische Institution sein, geschult an den Umbrüchen von 1989/90, die Redaktion soll die Themen diskutieren, nicht reglementieren, sie soll zulassen, dass zunächst uneinheitlich sein kann, was gedruckt wird. Eine gemeinsame Handschrift kann sich später herausbilden.

An die Reste der Mauer in Kreuzberg gelehnt, ein symbolträchtiger Ort, etwa gleich weit entfernt von beiden Redaktionshäusern damals. Das Foto dokumentiert: Ohne Mauer und Mauerfall würde es den Freitag nicht geben. Wer in die Gesichter schaut, liest allerdings wenig Euphorie, die sonst einen Aufbruch begleitet, dafür skeptische Erwartung. Nur wenige lächeln freundlich, die meisten scheinen mit trotzig in den Boden gerammten Füßen zu sagen: Hier stehen wir und bleiben, wer wir sind. Daraus wird nichts. Die Wende ist ein Jahr her. Und der Osten ahnt, er wird die Welt kein zweites Mal aus den Angeln heben. Sein Anteil ist auf Zuträgermaß geschrumpft. Die neuen Helden sitzen in den guten Stuben der Macht, nicht auf der Straße, und die "Zuträger" werden schnell sortiert, die Guten ins Kröpfchen, die Schlechten ins Töpfchen.

Mit der großen Freiheit des Schreibens soll es nichts werden, wir müssen unsere Groschen zählen, bevor es überhaupt losgeht. Das Wunder: An einen Aufbruch in den Untergang denkt dennoch niemand. Es gibt dafür einfach keine Zeit, Zukunft ist morgen, die nächste Ausgabe, es gibt nur Jetzt und die Angst, das Einmalige nicht adäquat zu erfassen. Es scheint eine Ewigkeit her, dass wir im klapprigen Fahrstuhl unters Dach der Oranienstraße (die ersten Redaktionsräume des Freitag) fahren. Ein ausgebauter Boden, sehr hell. Wie ein quer gelegtes E angelegt. Eingang im Mittelbalken, rechts Sekretariat und Grafik, geradeaus zur Küche, dann der lange E-Strich mit Büros. Oberer Teil vom E: Druckvorbereitung, unterer: Archiv und Sitzungsraum. Treffpunkt und Ideenbörse ist die Küche. Im Sitzungsraum - quasi offiziell - bleibt manchem das Wort im Hals stecken. Die eigentlich mitteilsamen Ostler lassen sich vom allwissenden Duktus der Reden ihrer neuen Kollegen ins Boxhorn jagen. Haben wir mit der Wende nicht gerade gelernt, dass es keine Gewissheiten gibt?

Wir ahnen damals noch nicht, es wird keine neue Bundesrepublik geben, die für Ost- und Westleser gleichermaßen aufregend wäre. Deshalb haben die Kollegen aus dem Westen auch keinen Grund, ihre Welt ebenso in Frage zu stellen wie wir die unsere. Wir lernen neue Vokabeln. "Abgegessen" zum Beispiel. Alle Debatten scheinen längst geführt, alles ist schon x-mal kommentiert. Oder "Evaluierung" und "Abwicklung", Begriffe, die zu verstehen geben, dass ganze Kombinate und Wissenschaftszweige ihre Arbeit aufgeben müssen. 15 Jahre später können Westler ein Lied von der Abwicklung ihrer Betriebe singen. Das Kapital wird als "scheues Reh" bezeichnet, ständig bereit, zu fliehen vor denen, die für anständige Arbeit anständiges Einkommen wollen. Abgelöst vom Begriff "Heuschrecken", aber das ist 15 Jahre später. "Katzbuckeln" wird wieder üblich, den Begriff aber findet man nicht.

Ganze Generationen von selbstbewussten Arbeitern lernen, vor dem Geld das Knie zu beugen. Wir eingeschlossen. Und lassen die ersten Federn: Weniger Seiten, weniger Leute. Noch scheint uns, prominente Herausgeber könnten mit ihrem Profil helfen, unser Profil öffentlich zu schärfen. Gerburg Treusch-Dieter, Günter Gaus, Christoph Hein, Wolfgang Ullmann. Brillante Schreiber gegen den Mainstream. Es hilft - aber nicht genug. Der Zeitgeist tut noch, als sei das Paradies im Anmarsch. Und wenn es denn auf sich warten lässt, dann nur, weil der Osten so viel Säuernis produzierte und die gute Laune verdirbt. Bei so einseitiger Schuldzuweisung kippt die Stimmung. Wäre der Freitag nicht die erste Zeitung gewesen, die den "Krach der Deutschen" spürt und in die Zeitung hebt, wäre die Pari-Pari Konstruktion der Redaktion überflüssig gewesen. Diese Serie von 1991 gehört zu den herausragenden Debatten in der Zeitung. Die Podien zum Thema sind ausgebucht, der Bedarf, sich über die gegenseitigen Vorurteile zu verständigen, scheint riesig. Abgebaut aber werden sie nicht. Bis heute nicht. Vieles, was damals zur Sprache kommt, würde heute ein wenig anders klingen - der Kern wäre unverändert.

Kriege, nach der Ost-West-Konfrontation, der friedlichen Wende, scheinen sie kaum noch denkbar. Kann es Gründe geben, Krieg zu befürworten, kann es Gründe geben, sich am Krieg zu beteiligen? Die Debatten in der Redaktion sind heftig. Jahre später höre ich von Kollegen, die beim ersten Golfkrieg 1991 militärisches Engagement befürworten, heute sähen sie das anders. Wir hätten ganze Ausgaben füllen können, die Veranstaltungen zum Thema sprengen die Säle, und die Meinungen haben nur noch wenig mit Ost- oder Westherkunft zu tun.

Wir haben beim Freitag am Anfang über die Verhältnisse gelebt. Seitenzahl, Mitarbeiter, die Präsenz an den Kiosken, Veranstaltungen. Nun holen uns die Rechnungen ein. Wir bitten die Leser um Unterstützung. Ein schwerer Schritt und ein ermutigendes Zeichen: Tatsächlich gibt es viele, die uns über die Runden helfen und das mit freundlichem Zuspruch und Würdigung des Geleisteten würzen.

Wenn es den Freitag seit 15 Jahren gibt, dann auch, weil die Zeitung niemandem zum Munde redet, sich an keine vorgefertigten Wortschablonen hält und inzwischen - mühsam, aber immerhin - ohne Zuschüsse über die Runden kommt. Dank einer Leserschaft, die sich das Denken nicht vorschreiben lassen will. Es ist eingetreten, was wir 1990 befürchtet haben: Die Abwicklung im Osten hat auf den Westen übergegriffen, die Generalprobe Ost war zu vielversprechend: Sie bewies, bevor Widerstand massiv wird, liegt ein weites Feld. Dabei gibt es die Ost-West-Kluft wie die Ost-West-Klischees nach wie vor, sie werden bei vielen Gelegenheiten als Erklärung für Exzesse bemüht, ob sie sich im Arbeitsleben zutragen oder in der Politik oder sonst wo. Das muss Thema im Freitag bleiben, auch wenn in der Redaktion die Sensibilität für das, was sich anbahnt, nicht mehr so ausgeprägt ist. Ost oder West-Herkunft ist nach 15 Jahren weniger das Kriterium für die Mitarbeit an der Zeitung als Denken ohne Schablone. Das Bedürfnis, aus anderen, denn den wohlfeil sprudelnden Quellen, die jede Zeitung bedienen, informiert zu werden, hat nicht so sprunghaft zugenommen wie die Zahl der Arbeitslosen. Soll heißen, der Freitag könnte auch sehr viel mehr Leser bedienen, doch ohne Zuschüsse ist der Preis einer Ware hoch, manchmal zu hoch für die, die sie brauchen könnten. Die Redaktion ist mehrmals umgezogen, heute gleichen die Räume in der Potsdamer Straße einem umgelegten T. Die zwei Striche oben und unten, die mit einer Vierteldrehung aus dem T ein E machen, fehlen. Vielleicht ein Sinnbild für verlorene Illusionen? Ost-West ist nicht mehr das Maß aller Dinge, eher der Hinweis darauf, dass Konflikte lösbar sind, wenn genug Menschen sie lösen wollen.

Von den 14 auf dem Bild sind nur noch ganz wenige in der Redaktion. Die Diskussionen sind heute sachlicher als vor 15 Jahren, neue, junge Kollegen sind hinzu gekommen. Die kritische Begleitung des Alltags der Menschen ist manchmal kaum noch zu leisten, aber eines ist unverändert die Stärke des Freitag: Das Denken außerhalb des Mainstreams.

Die Autorin war bis 1990 Redakteurin beim SONNTAG.


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