Die Schatten des Verlassenen

Einrichten in die Vorläufigkeit Die Berliner Historikerin Ruth Kibelka schrieb eine Geschichte über Menschen im "Memelland" der Nachkriegszeit

Ich habe Jahrzehnte nicht daran gedacht, dass die Straße meiner frühen Kinderjahre Memelland hieß und sich an einem Landstrich orientierte, der auch einmal deutsch, dann aber litauisch/sowjetisch war. Er taucht, anders als Königsberg oder die kurische Nehrung, so gut wie nie in politischen oder literarischen Zusammenhängen auf. Memelländer gab es in der Nachkriegsgeschichte nicht. Menschen, die dort lebten, waren Litauer - vielleicht auch Balten. Deutsche, die in dieser Gegend geboren wurden, ordnete man Ostpreußen zu. Als die DDR den Fährbetrieb zwischen Rostock und Kleipeda aufnahm - zu Beginn der achtziger Jahre, wenn meine Erinnerung nicht trügt -, wussten nur die, die alte und neue Atlanten vergleichend bemühten, dass es sich dabei um das einstige Memel handelte.

Die Autorin und Historikerin Ruth Kibelka hat sich dieses Landstrichs angenommen und inzwischen das zweite Buch veröffentlicht. Ihr erstes handelte von den Wolfskindern. Aus unterschiedlichen Gründen von ihren deutschen Familien getrennt, überlebten sie zunächst in den Wäldern, waren aus ebenso unterschiedlichen Gründen kriminell, wurden schließlich litauisiert und so weit eingemeindet, dass inzwischen von deutscher Abstammung nur noch gerüchteweise Kenntnis besteht (die vierte Auflage wird für dieses Jahr vorbereitet). Nun widmet sie sich fünf Jahrzehnten Nachkriegsgeschichte. Sie nennt das Buch einfach Memelland. Gleich vorweg: Sie hält sich an die fünf Jahrzehnte Nachkrieg, was zur Folge hat, dass vieles, was von Krieg und Nazizeit erklärt werden müsste, nur andeutungsweise eine Rolle spielt. Es taucht in den protokollierten Erinnerungen von fünf Befragten nur insofern auf, als ihre Stellung im Nachkriegslitauen davon bestimmt wird, nicht aber als Reaktion auf eigenes Verhalten. Es gibt kein Bewusstsein von Schuld, nur die Erzählung darüber, wie nach 1945 jeder Deutsche als Faschist beschimpft wurde. Im Einzelfall durchaus ungerecht, aber Hitler war auch im Memelland umjubelt worden.

Der Autorenkommentar liefert die Informationen darüber, dass seit Menschengedenken in dieser Gegend Deutsche, Polen, Litauer, Russen, Weißrussen und Juden neben einander lebten. Als diese Vielfalt verschwand - nach einer Zwischenzeit als litauische Provinz wurde der Landstrich nach dem Hitler-Stalin-Pakt von den Sowjets übernommen, um dann 1941 dem Deutschen Reich wieder zugeschlagen zu werden -, als vor allem jüdische Nachbarn von einem Tag auf den anderen "verreisten", fragte niemand nach, der Exodus wird wie ein Naturereignis reflektiert. Die Diskriminierung, die Deutsche nach dem Krieg erfuhren, wird als Unrecht empfunden.

Was diesem Buch eine eigene Spannung gibt: Es handelt nicht von Deutschen aus dem Memelland, sondern von Menschen, die dort auch nach dem Krieg lebten. Sie sind insofern etwas Besonderes, als sie im Juli 1944 von der Wehrmacht vertrieben wurden - der Landstrich sollte Aufmarschgebiet für die große Gegenoffensive werden - und von den Alliierten, Russen wie Amerikanern, 1945 zur Rückkehr veranlasst worden waren. Gerade diejenigen, die Heimat ortsverbunden und nicht national definierten, machten sich auf den Heimweg. In der Zeit des Hungers wurde ihnen dafür sogar Proviant übergeben, das, veräußert, als eine Art Startkapital für den Neuanfang in alter Umgebung gelten konnte. Aber, nichts war so wie versprochen, im besten Fall traf man auf die Schatten des Verlassenen. Die Häuser waren bewohnt oder geplündert, als Material für die Reparatur anderer Bauten ausgeschlachtet und unbewohnbar. Das wieder Hergerichtete, das, was man manchmal sogar mit Hilfe ehemaliger litauischer Nachbarn säte und erntete, unterlag sowjetischer administrativer Verwertung - einem hohen Soll, niedriger Entlohnung, schließlich wurde das Land in Genossenschaften überführt, die Einzelwirtschaft begrenzt. Stalin herrschte, Männer verschwanden nicht nur, wenn sie als Kollaborateure galten, Frauen und Kinder wurden zur Arbeit nach Sibirien verschleppt. Die Überzeugung, mit der Rückkehr einen fatalen Fehler gemacht zu haben, breitete sich wie Mehltau über die deutsche Kolonie. Das Gefühl, allein für den Krieg zu zahlen, verhinderte selbstkritische Überlegungen. Der Nachkriegsnot folgte Perspektivlosigkeit. Man versuchte, mit Macht zu bewahren, was auch in den westlichen Staaten nicht bewahrt werden konnte: Das Lebensgefühl der ländlichen Einfachheit, gläubiger Ergebenheit und deutschen Eifers. Als auch das nicht funktionierte, entledigte man sich seiner Papiere. Ein großer Fehler, der die schließlich angestrebte Ausreise in einen der beiden deutschen Staaten unmöglich machte.

Die Autorin hat Verhandlungsdokumente beider diplomatischer Vertretungen in Moskau gesichtet und kommt zu dem Schluss, die DDR habe schon vor dem Besuch Adenauers und dem Beschluss über die Rückführung Deutschstämmiger ausdauernd um deren Ausreisemöglichkeit gekämpft - nicht ganz uneigennützig natürlich, man wollte dem zweiten deutschen Staat beweisen, dass die besseren Beziehungen zur UdSSR auch zu besseren Ergebnissen bei derlei Verhandlungen führten. Ein Trugschluss. Die sowjetische Regierung behandelte die DDR durchaus nicht bevorzugt. Für die Deutschen im Memelland bedeutete das, der Kontakt mit beiden Botschaften konnte schlimme Folgen haben oder - ganz nach Belieben der zuständigen Behörden - die Ausreise möglich machen. Zwischen 1957 und 1959 erfolgte der wesentliche Auszug aus diesem Gebiet. Wer blieb, richtete sich endgültig in der Vorläufigkeit ein. Er begriff sich zwar weiterhin als unterwegs in die alte Wertegemeinschaft, aber sein Leben würde er endgültig dort zubringen, wo von dieser Gemeinschaft keine Rede war.

Für die Kinder wenigstens begann eine normale Karriere in einer der sowjetischen Baltenrepubliken. Mit Zugeständnissen, Hoffnungen und Überzeugungen, eigener Kritik, aber auch mit Ausbildung, Studium, bis hin zum leitenden Redakteur beim litauischen Fernsehen. Allerdings lernte man auch, in den Protokollen wird davon ganz ungeniert erzählt, die sowjetischen Denunziationsmechanismen zum eigenen Vorteil zu nutzen. Drei von fünf Befragten geben an, litauische Mitbürger beim KGB gemeldet zu haben. Die Strafen, die daraus folgten, werden auch aufgezählt. Andere aber, oft diejenigen, die Litauer geheiratet, politisch aktiv oder aber einfach engagiert waren, haben den Unabhängigkeitskampf der Litauer zu Beginn der neunziger Jahre unterstützt und damit scheinbar eine Basis für dauerhaft gute Beziehungen zwischen den Volksgruppen geschaffen.

Ein Schein, der trügt. Zwar hat sich das Verhältnis der heute dort Lebenden untereinander entspannt, auch Russen können wieder einigermaßen unbehelligt leben, und für die ländliche deutsche Bevölkerung des Memellandes hat sich in den achtziger Jahren, nachdem Besuche bei Verwandten in Ost- wie Westdeutschland möglich wurden, die Ausreise tatsächlich entzaubert. Da war kein Ort, der Ähnlichkeit mit ihrer Erinnerung an früher aufwies.

Da war mehr Fremde als im Litauischen. Eine Rückkehr zu tradierten Lebensformen, zu eigenständigen Entwicklungen deutscher regionaler Besonderheiten schließt die Autorin dennoch aus. Und zwar mangels Masse. Trotz Förderung von nationalen Kulturvereinen, dem Wiederaufbau von Kirchen, Schulunterricht in der jeweiligen Muttersprache, die Erinnerungen an deutsche Dialekte dieser Gegend ist verloren, preußisch-litauisch-russische Geschichte bleibt spannungsgeladen, derjenige Teil der aktiven Bevölkerung, der sein Deutschtum pflegt, hat das Land verlassen oder will es tun.

Ethnische Zuordnungen haben im aufgeklärten 21. Jahrhundert eben immer noch Konjunktur. Nicht nur in Jugoslawien. Multikulturelle Erfahrungen sind zu fragil, um als Lebensbasis zu taugen. Vielleicht auch, weil die Jahrhunderte alte Tradition des Zusammenlebens immer wieder von nationalen Interessen überlagert und so zur Katastrophe wurde. Jeden Versuch, andere Volksgruppen zu dominieren, haben am Ende alle mit Not und Elend bezahlt.

Der Leser könnte die Geschichte des Memellandes als eine Art Lehrbuch für Toleranz begreifen, als gelebte Mahnung an ein Jahrhundert, das ethnisch nationale Interessen über alle anderen stellte und damit fast alle Lebensentwürfe vernichtete. Er könnte im vereinten Europa, zu dem Litauen zählen soll, für gleiche Rechte sorgen und Dominanz von Starken per Gründungsbeschluss unmöglich machen. Doch sieht es danach aus?

Ruth Kibelka: Memelland - Fünf Jahrzehnte Nachkriegsgeschichte, Basisdruck, Berlin 2002, 238 S., 19,40 EUR


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