Wichtigstes Fazit: Europas Einheit ist wie ein Kelch. Voll des wunderbaren Weins der Erkenntnis und der Abgründe mutwilliger Zerstörung.
In den Erinnerungen des Karl Dedecius Ein Europäer aus Lodz ist ein Jahrhundert beschrieben, das all die Träume und Visionen schon kannte, die die Bemühungen um Europas Einigung bis heute begleiten. Multikulturell nannte man das Zusammenleben der Menschen verschiedenster Nationalität noch nicht. Aber, von der modernen Industrie angelockt, kamen sie am Beginn des vergangenen Jahrhunderts aus ganz unterschiedlichen Landstrichen in explosionsartig wachsende Städte. Bereit, sich einzuleben, bereit, ihre Arbeitskraft anzubieten, bereit, ein neues Leben zu beginnen und, vor allem, das der Nachbarn zu respektieren. Verschiedene Sprachen, Literaturen, Künste, Lebensformen oder Religionen stießen aufeinander, produzierten eine Lebendigkeit, die Geist und Wirtschaft beflügelte.
Dedecius ist 1921 in Lodz geboren, jener vielsprachigen Textilmetropole, in die seine schwäbische Mutter und der böhmisch-deutsche Vater auf der Suche nach Arbeit und Wohlstand "freiwillig geflüchtet" waren. Gleich vielen anderen. In seinem polnischen Gymnasium, das der Vater für ihn mit Bedacht wählte - wer in einem polnischen Umfeld lebt, sollte die Sprache seiner Mitmenschen sprechen - wurden Polen, Deutsche, Juden, Franzosen und auch Russen unterrichtet. Sie fühlten sich in erster Linie als Lodzer. Nach Dedecius eine Spezies besonderer Art. Aufgeschlossen, ohne Vorurteile, mit einer Nationalität im Rücken, aber ohne Nationalismen im Herzen oder auf den Lippen. Unvorstellbar für die Abiturienten, dass sich diese gewachsene Einheit in Milieus auflösen könnte, in der das deutsche Milieu dominiert und auf alle anderen mit unvorstellbarer Gewalt einschlägt. Aber genau das passiert, gleich nach dem Schulabschluss. Zögerlich ordnet er sich seiner Nationalität zu. Der Gleiche unter Gleichen avanciert in den Vorstellungen seiner Mitschüler zum möglichen Helfer bei der Suche nach verschwundenen Familienangehörigen. Ist es aber nicht. Früher als er selbst begreifen sie, das kleine Rad hat keine Chance, in andere Richtung zu drehen. Was bleibt, ist Leere, Enttäuschung. Und eine tiefe Liebe zu der allgemein als hässlich geschmähten Stadt. Wie für den Autor Julian Tuwim oder den Musiker Artur Rubinstein prägt sie für Dedecius alles, was er in den folgenden Lebensjahrzehnten tun wird.
Als deutscher Soldat in Stalingrad kommt ihm kein Wort der Klage in die beschreibenden Zeilen, trotz der Entbehrungen im Kessel und in der Gefangenschaft fragt er nach den russischen Dichtern, entdeckt und übersetzt Lermontow. Organisiert Abende russischer Kultur, der eine oder andere Kinoabend gelingt - Überlebenshilfen. Niemals aber in Zusammenarbeit mit den Deutschen vom "Nationalkomitee Freies Deutschland". Humanistische Werte schließen für ihn Ideologismen irgendwelcher Art aus. Faschistische Durchhalteparolen sowieso, aber auch kommunistische Interpretation. "Von den Vorgängen bis 1945 und danach hat man mir erst nach meiner Heimkehr erzählt", schreibt er. "Ich bin überzeugt, dass wir im Lager in Russland nicht so schlimmen Gewissensprüfungen und Nöten ausgesetzt waren wie die Verwandten und Bekannten in Deutschland und den besetzten Gebieten. Wir waren unfrei, sie waren es auch, wir froren, sie auch, wir hungerten, sie auch, aber um unsere Seelen kämpfte nicht Tag für Tag der Teufel der Menschenverachtung mit seinem Dreizack aus Infamie, List und Erpressung".
Aus der Gefangenschaft zur Verlobten nach Weimar entlassen, werden seine Kenntnisse schnell publik und von denen, die im Nachkriegs-Weimar die Wiederbelebung von Theater und Literatur zu fördern versuchen, geschätzt, Karriere- und Studienangebote folgen. Er aber zieht die Flucht in den Westen vor. Und beginnt als Autodidakt die angelernten russischen Sprachkenntnisse zu vertiefen. Seine Arbeit bei der Versicherung sichert das Brot, die Träume seiner Jugend erfüllen sich dort nicht. Seine Visionen von einem einheitlichen Europa, das voneinander profitiert, schließen, trotz weltanschaulicher Vorbehalte, den Raum jenseits der Elbe ein. Die polnische, russische, ukrainische Kultur seiner Jugend fehlt im Angebot des Westens. Misstrauisch beobachtet von Geheimdiensten aller Couleur, übersetzt er aus dem Polnischen, bedrängt die Verlage mit polnischer Lyrik, findet im Suhrkamp-Verlag Verbündete. Du übersetzt/ mein gedächtnis/ in dein gedächtnis/ mein schweigen/ in dein schweigen// das wort leuchtest du aus/ mit dem wort/ hebst das bild/ aus dem bild/ förderst das gedicht / aus dem gedicht zutage// verpflanzt meine zunge/ in eine fremde/ dann/ tragen meine gedanken/ früchte/ in deiner sprache, schreibt ihm ein begeisterter Tadeusz Rózewicz.
Es ist nicht die Herkunft, die ihm die Türen öffnet, es ist die Sprache, die Vertrautheit mit polnischer Mentalität, dem Milieu. Das gilt auch für die Wahrnehmung der polnischen Exilliteratur. Im Westen gilt er schnell als zu polenfreundlich, im Osten als Antikommunist, der mit seinen Kontakten zur polnischen Literatur- und Kunstszene das System zu unterwandern droht. Dennoch gelingt ihm eine imponierende Bilanz. Befreundet mit vielen der wichtigen polnischen Autoren, erschließt er deren Werk für Westeuropa, auch das des Nobelpreisträgers Czeslaw Milosz, lange bevor ihm der Preis internationalen Ruhm beschert.
Dedecius lebt in der polnischen Literatur, arbeitet Schuld durch Annäherung ab, auch wenn er nicht zu denen gehört, die irgend etwas aufrechnen würden. Er gründet ein Deutsches Polen-Institut, entwickelt eine Polnische Bibliothek, sorgt für Präsenz polnischen Gedankenguts im literarischen, aber auch philosophischen Diskurs Westeuropas.
Und berichtet davon nicht ohne Stolz. Er zitiert Briefwechsel, Dankesreden, genießt, dass die Heimatstadt Lodz dem ehemaligen Gymnasium seinen Namen gibt. Scheu zeigt er sich, als es darum geht, beim Klassentreffen dem Verbleib der jüdischen Schulkameraden nachzuspüren. "Ich schämte mich und ich war nicht allein ..." Merkwürdig, dass dieser überzeugte Europäer nicht fragt, warum das als harmonisch empfundene Miteinander in Lodz so geräuschlos zerbersten konnte. Es gibt keine Verabredungen der jungen Leute, die auf etwas anderes hinausliefen, als an den Katastrophen des Jahrhunderts mittun zu müssen. Der Punkt, von dem aus die ehemaligen Schüler des polnischen Gymnasiums am Ende des Jahrhunderts wieder zueinander finden, ist humanistische Bildung, literarische Verwandtschaft. Sprache. Exzellent gehandhabt wie selten in einer Biografie, geschult an den besten Köpfen dreier Nationen.
Für Dedecius ist Literaturvermittlung Arbeit an der Verständigung zwischen Völkern und ständige Erinnerung an ein europäisches Selbstverständnis, wie es schon im ersten Viertel des vergangenen Jahrhunderts gerade bei Künstlern und Intellektuellen ausgeprägt war. Dass humanistische Bildung, Kenntnis der besten Zeugnisse von Kunst und Kultur der verschiedenen Länder noch lange keine Garantie für Katastrophenverhinderung ist, wurde für ihn und für viele seiner Altersgefährten zur tödlichen Gewissheit. Was also muss unverzichtbar hinzukommen? Genau das schreibt er nicht. Gerade die jüngste Zeit aber lehrt, Misstrauen ist nicht nur eine Frucht der Unwissenheit, es lässt sich säen. Gedüngt mit Vorurteilen, zu anderen Zeiten gemachten Erfahrungen entwickelt sich jene Schwüle, die Blüten der Vernichtung treibt. Auch in Europa. Immer noch.
Karl Dedecius: Ein Europäer aus Lodz - Erinnerungen. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2006, 381 S., 22,95 EUR
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