Ein ganz gewöhnlicher Ort

ALLTAG VON JEDERMANN Irene Böhmes DDR-Roman »Die Bibliothekarin«

Was war diese geschlossene Gesellschaft, die sich DDR nannte? Menschen, die dort lebten, hatten sich weder dafür, noch dagegen entschieden. Ein verbrecherischer Krieg hatte sie ausgespuckt, lebend, irgendwo dort, wo der Sieger Sowjetunion Besatzungsmacht wurde. Wie lädierte Insekten versuchten sie, sich zu sammeln und ihre Umgebung zu ordnen. Genau wie in den anderen Zonen auch. Bevor sie begriffen, daß die künftige Existenz in zwei Landesteilen stattfinden sollte, hatten sich Fronten verhärtet und Lebensläufe angebahnt, die häufig genug nur noch mit sich selbst korrespondierten. Rotierende Innensichten setzten die Norm. Wer sich ihnen entzog, war durch Herkunft, selten durch aktives Handeln festgelegt, aber bis zu einem gewissen Punkt auch offen. Geschlossene Gesellschaften funktionieren wie Dörfer, in denen es einen Kodex gibt, der nur bei gravierenden Ereignissen infrage gestellt wird.

Diese Gesellschaften zu verstehen, macht sich kaum einer die Mühe, es sei denn, sie werden Staat. Am besten mit Anfang und Ende - ein Mikrokosmos, abschließend zu bewerten. Dann aber gibt es längst feststehende Außenurteile, die die Innensichten solange ignorieren, bis das sowieso vorhandene Bild bestätigt ist, auch von denen, die es kraft Erfahrung widerlegen könnten. In so einem Fall, die DDR ist so einer, verlieren Individuen ihr Gewordensein und damit den Halt.

Solche Lebenswelten auszuloten, ist deshalb eines der wenigen wirksamen Gegenmittel zu Entwurzelung. In die Tagespolitik der Ost-West-Problematik übersetzt, heißt das: Sich gegenseitig im Gewordensein wahrnehmen. Das ist über Dokumentarfilme und Sachbücher, über Protokolle, gelegentliche Reportagen, die Rezeption von DDR-Literatur, direkten Gesprächen, Debatten über Ost-West-Mißverständnisse zahlreich versucht worden. Nun auch in dem Roman Die Buchhändlerin von Irene Böhme. Die Autorin kramt in einer Sphäre, die sie sehr genau kennt. Sie ist nicht nur in der DDR aufgewachsen, über eine Buchhändlerlehre zur Journalistik gekommen und hat schließlich als Dramaturgin und Theaterwissenschaftlerin gearbeitet. Ihre mit viel Überzeugtheit und Energie angegangene DDR-Karriere scheiterte, wie die so vieler, an der Kleinkariertheit von Kulturpolitik und endete ein paar Jahre vor der Wende in Westberlin.

Irene Böhme erzählt schnörkellos zwei Lebensgeschichten, die über die Landmannsche Buchhandlung verknüpft sind. Gisela, Jahrgang 1900, und Sigrid, zur Ausbildung dorthin geraten, die eine Besitzerin und Chefin, die andere Lehrling und der Schule wegen elterlichem Geldmangel entzogen. Beide durchsetzungsfähig und zäh, lebenslustig, über ihre Zeit hinaus emanzipiert und doch auch ausgeliefert: Umständen, Gesellschaften, Männern... Ihre Sicht auf die Umwelt ist durch Herkunft, Ehrgeiz und das soziale Milieu vorgegeben. Was oben, was unten ist, ändert sich im Laufe der Jahre. Das ist staatlich gewollt, aber auch durch individuelle Lebensplanung begründet. Elitenaustausch war Ziel des Staates DDR, aber auch Wille derer, deren Fähigkeiten brachlagen.

Sigrid, am Ende des Krieges fünfzehn, sechzehn, gehört zu jener Generation, die Gesellschaftsformen als gegeben hinnahm, den BDM ebenso wie später die »neue Zeit« mit ihren Zirkeln und Organisationen. Sie genießt ungeniert Segnungen und Widersprüche, pendelt zwischen den Welten. Für sie gibt es ein einfaches Raster, in das sich berufliche Entscheidungen, die fast automatisch politische sind, einpassen müssen: »Nie wieder privat«. Die kleinen und großen Drangsalierungen eines Lehrlingslebens verknüpfen sich ausschließlich mit der Ausbildungszeit in der privat geführten Landmannschen Buchhandlung. Die Würfel pro DDR sind gefallen, lange bevor andere Einflüsse wirken können. Ihre Flirts, ihre Schieberfahrten, ihre Nächte mit den Reichen oder Schönen des Städtchens werden nichts daran ändern. Warum auch sollte sie gehen? Wer ahnt schon, daß der Booggy verpönt, Kreppsohlen staatsgefährdend werden könnten? Und selbst wenn, Sigrids Weg führt über verführerische Plätze mit Kunst und Kitsch und dem überwältigenden Gefühl, nicht nur geduldet, sondern gewollt zu sein. Das ist es, was sie sucht: den Platz, der ihrem selbstbestimmten Wert entspricht.

Ihren Wert hat auch Gisela, die Besitzerin der Landmannschen Buchhandlung zu bestimmen versucht. Aber ihr wurde er, zusammen mit der Verantwortung für die von der jüdischen Familie Landmann erworbene Buchhandlung, übereignet. Sie wird, quasi in Stellvertreterfunktion, ausharren. Das ist keine politische Entscheidung, sondern Hochachtung vor den ehemaligen Besitzern. Sie bleibt der Buchhandlung treu, über die Zeit des Nationalsozialismus hinweg, nach dem Krieg, als ein Brot mehr wert war als alles, was in ihrem Laden steht, und auch als ein staatlicher Buchhandel sie überrollt und Repressionen ihre Überflüssigkeit unterstreichen sollen.

Beide Figuren entwickeln sich in einem plastisch erzählten Milieu, sind voller Ideale, kämpferisch, manchmal ein bißchen naiv, ohne Angst jedenfalls. Nichts ist dämonisch, oder gänzlich anders, als es außerhalb dieses Mikrokosmos wäre. Leben nach bestem Wissen und Gewissen, bei Gil und Sigrid.

Das Buch vermeidet ein schwarz-weißes Sittenbild, da die guten, aber unterdrückten privaten Unternehmer, dort die Emporkömmlinge (oder umgekehrt), weniger durch differenzierte Figurenzeichnung als durch die Verschränkung der beiden Geschichten. Deren Montage liefert in einer Art seitenverkehrter Reflexion Einordnung und Wertung der jeweiligen Gegenfigur. Der Eindruck, beide Geschichten seien zunächst nacheinander erzählt worden, entsteht, weil der Leser die Überblendungen nicht als zwingend wahrnimmt. Der vier-, fünfmalige Perspektivenwechsel in dem fast 400 Seiten starken Buch verlangt vom Leser immer wieder Zeitsprünge, die nur gelegentlich mit Typischem - Parolen, Schlagertexten etc - erleichtert werden, auch wenn viele der verwendeten Episoden ohne große Mühe historisch zugeordnet werden können, manchmal sogar mit Klarnamen historischer Personen versehen sind. Das verführt dazu, das Buch als Schlüsselroman zu lesen. Es liefert aber allenfalls den Schlüssel zu den vielen kleinen, ganz durchschnittlichen Leben.

Die Einmaligkeit von Gil und Sigi, ihre Zugeständnisse, ihr Wille, glücklich zu sein, brechen sich in den verschiedenen Jahrzehnten deutsch-deutscher Geschichte. Ähnlichkeiten mit dem Alltag von Jedermann ergeben sich von selbst. Da tut das Buch manchmal zu viel, nicht jede Figur muß jede Erfahrung machen, aber es macht aus der DDR weder Himmel noch Hölle, sondern einen ziemlich gewöhnlichen Ort.

Irene Böhme: Die Buchhändlerin, Verlag Rowohlt Berlin, 1999, 384 Seiten, 39,80 DM

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