Eine Empfehlung ist das nicht

Erzwungene Wege Eine Ausstellung des Bundes der Vertriebenen, bewusst neutral, bewusst falsch

Eines steht fest: Der Besucher verlässt diese Ausstellung so emotionslos oder emotionsgeladen, wie er sie betreten hat. Die taktische Vorgabe ist, einen sichtbaren Beweis für Objektivität zu liefern. Das von den Vertriebenenverbänden so heiß ersehnte und seit Jahren diskutierte Zentrum gegen Vertreibungen schielt durch jede Sentenz der Ausstellung Erzwungene Wege. Flucht und Vertreibung im Europa des zwanzigsten Jahrhunderts im Berliner Kronprinzenpalais. Und führt dieses Vorhaben allein schon deshalb ad absurdum: Es fehlt Souveränität.

Der konsequent europäische Ansatz, der den Kritikern den Wind aus den Segeln nehmen sollte, enthält eine Unzahl von Tücken. Es ist eben nicht einfach, den Beispielen von Flucht oder Vertreibung aus dreißig europäischen Völkern jeweils Ursachen, historische Hintergründe sowie den europäischen Kontext zuzuordnen und überdies damit verbundene persönliche Schicksale und Wirkungen bis in die Gegenwart zu dokumentieren. Falls diese umfassende Dimension überhaupt einmal angedacht war, ist sie so weit geschrumpft, dass am Ende nur noch einige Zeilen aus einem populärwissenschaftlichen Aufsatz über die jeweiligen Flucht- und Vertreibungsszenarien an die Wand geklebt worden sind, vor denen sich an diesem verregneten Sonntag dennoch jede Menge Menschen drängeln und lesen. Wer den Charakter der Schau als Ausstellung allerdings ernst nimmt und versucht, die kleinen ergänzenden Bilder genauer unter die Lupe zu nehmen, muss dichter an die Wand herantreten und trifft dabei unweigerlich auf den Protest der übrigen Besucher, die nichts mehr sehen können.

In einem Vor-, einem größeren und zwei kleinen Räumen sind auf den angedeuteten Umrissen des Kontinents Fluchtbewegungen, Zwangsemigrationen und tatsächliche Vertreibungen in ihrer zeitlichen Reihenfolge neben einander angeordnet. Beginnend mit dem Zerfall des Osmanischen Reiches, dem Völkermord an den Armeniern, den "Umsiedlungen" in Vorbereitung des Ersten Weltkriegs, der Abtrennung Finnisch-Kareliens zugunsten der Sowjetunion, bis hin zu den "Vertreibungen" von Juden, den Flüchtlingsströmen des Zweiten Weltkriegs und der Deutschen in seinem Gefolge sowie den ethnischen Säuberungen zum Ende des Jahrhunderts in Jugoslawien. Das Dilemma dieser Darstellungsweise ist leicht auszumachen: Für die jeweiligen "Zwischenzeiten", in denen Konflikte entstehen, sich verfestigen, die ideologischen Vorbereitungen für Interventionen, die zur Vertreibung oder Flucht führen, aufgebaut oder gar diskutiert werden, ist kein Raum. Sie tauchen in zwei, drei Sätzen auf, ohne vertieft oder begründet zu werden. Und schweben alle ziemlich gleichwertig neben einander: Ein Völkermord steht da etwa neben einer Flucht, die nicht vom Gegner erzwungen, sondern - wie beispielsweise in den Auseinandersetzungen zwischen Türken und Griechen - einem internationalen Beschluss zur Beendigung der kriegerischen Handlungen folgte und beinahe ebenso viele Griechen wie Türken betraf. Umsiedlungen zur Verfestigung von Annexionen, wie vor dem Zweiten Weltkrieg durch den Hitler-Stalin-Pakt ermöglicht, werden erwähnt, die Flucht der deutschen Neubevölkerung heim ins Reich als Vertreibung dokumentiert. Die systematische Ausrottung der europäisch-jüdischen Bevölkerung erfährt keine andere Bewertung als die Umsiedlung der polnischen Bevölkerung aus deren ehemaligen Ostgebieten. Die aktive Beteiligung der deutschen Normalbürger an den Vernichtungsaktionen, beispielsweise durch Denunziation, Plünderung, durch Inbesitznahme jüdischen Eigentums, durch Zwangsexporte aller Waren, die im Reich oder für den Krieg verwendbar waren, findet keine Erwähnung.

Es ist eine Art Geschick, das über Europa hinwegfegte - wer woran und vor allem warum Interessen damit verband, lässt sich nur dann erahnen, wenn einem die Geschichte ohnehin vertraut ist. Und historische Schuld gibt es schon gar nicht. Es gibt nur Betroffene und Nichtbetroffene. Vor allem aber gibt es kaum Täter. Interessenlagen, wirtschaftliche Vorteile, Kosten-Nutzen-Rechnungen, Machtpolitik bleiben außen vor.

Das Lieblingsprojekt der Präsidentin des Bundes der Vertriebenen, Erika Steinbach, will die Organisation als gute Adresse zur Aufarbeitung des Schicksals europäischer Flüchtlinge empfehlen und vermeidet deshalb jede Wertung. Erreicht allerdings, dass eine Art Gleichsetzungseffekt entsteht. Überall dasselbe Elend ... . Und schon das ist eine Fälschung. Europa hat seine Einwohner im vergangenen Jahrhundert nicht einfach an Dutzenden Stellen hin- und her getrieben, vor allem Deutschland hatte daran ein vehementes Interesse. Eine Erkenntnis, die man der im gegenüber liegenden Zeughaus gezeigten Ausstellung Flucht, Vertreibung, Integration immerhin ein wenig besser entnehmen kann.

Hinzu kommt, Erzwungene Wege liefert kaum Anschauungsmaterial. Eine gestrickte Babyausstattung - Jäckchen, Mützchen - ist schließlich nichts eben Ungewöhnliches, höchstens die graugrüne Farbe könnte auffällig sein. Die im Mittelraum des größten Saals per Kopfhörer abzuhörenden Erinnerungen Betroffener aus verschiedenen europäischen Ländern sind knapp und sachlich gehalten, bestenfalls entsteht Interesse, sich weiterführende Literatur zu beschaffen. Die Trachten, die Menschen in den verschiedenen Landstrichen trugen, sind heute auch andernorts nicht mehr gegenwärtig. Bunt beklebte Koffer oder ein alter Puppenwagen wecken allenfalls nostalgische Gefühle. Lediglich die Glocke der Wilhelm Gustloff, jenem versenkten Flüchtlingsschiff, bedient eine andere Dimension - es ist eine Leihgabe aus Polen.

Eine Empfehlung, dem Bund der Vertriebenen ein Museum anzuvertrauen, ist diese Ausstellung nicht. Der missglückte Versuch wäre die Aufregung nicht wert, hätte nicht Bundestagspräsident Norbert Lammert die Veranstaltung eröffnet. Wäre das Anliegen wirklich die Aufarbeitung von Geschichte gewesen, wären als Träger bestenfalls die UN-Flüchtlingsorganisation oder der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte infrage gekommen. Aber durch die Hintertür schien es auch mehr darum zu gehen, doch Leid zu gewichten, zu verrechnen und daraus Forderungen abzuleiten. Und Frau Steinbach konnte sich am Ende doch nicht verkneifen, als Ziel die vertiefte Darstellung deutscher Vertriebener zu nennen.

Erzwungene Wege. Flucht und Vertreibung in Europa des 20. Jahrhunderts. Kronprinzenpalais, bis 29. Oktober


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