Wenn ich gefragt werde, wie es mir geht, dann sage ich immer: Ich schwebe in einem Glaskasten weit über den Dingen. Ich sehe alles, höre alles, bin aber unfähig zu reagieren. Wann ich da hinein geraten bin? Ich weiß es nicht genau. Irgendwann in den zehn Jahren, die mich von der einmal behüteten Schülerin trennen.«
Miriam erzählt mit munterer Stimme, so als sage sie ganz normale Dinge. »Wir waren engagierte junge Leute, jetzt sind wir Zuschauer ...« Ihre schönen braunen Augen fixieren mich nachdenklich, nicht beunruhigt. Die kleine Person, die ich als Klassenkameradin meines Sohnes seit ihren Kindertagen kenne, befürchtet, ich könnte ihre Beschreibung seltsam finden. Sie erzählt erst weiter, als ich frage, ob sie dieses Leben im Glaskasten befriedigt. »Irgendwann muss ich da wieder raus, das ist sicher, aber im Moment ist das wie eine Hülle, die mich schützt.«
Anfang 1990 - es sind noch knapp zwei Jahre bis zum Abitur - genießt sie, wie das Leben, die Regeln, die Verhältnisse langsam zu schwanken beginnen. Schon vor der »Wende« hat es Debatten über »Schwerter zu Pflugscharen« an der Wandzeitung gegeben. Die jungen Leute laufen in die nahe gelegene Kirche, um zu erfahren, was passiert ist. »Natürlich gingen wir dann auch zu Demonstrationen, alles schien unerhört. Wir redeten erst leise, dann laut und viel, alle zusammen und jeder für sich. Kein Abend verging, ohne dass wir den idealen Staat erfanden. Wir genossen die neue Freiheit. Jeder Morgen begann mit dem Gespräch über den vergangenen Tag. Den Lehrern blieb nichts anderes übrig, als sich darauf einzulassen. Einige entschuldigten sich für die Art, wie sie bisher ihre Stunden gehalten hatten - das kostete sie den Rest von Reputation. Wir spürten einen Aufwind, der zu ungeahnten Höhen blies. Der trieb uns vor sich her. Die tödliche Krise des eigenen Staates wurde zur Geburtsstunde von Normen, die plötzlich für alles zu gelten schienen, was um uns herum passierte. Dass wir dadurch recht gefährlich lebten und abstürzen konnten, lag außerhalb unserer Vorstellung ...«
Ein toller Typ
Das Ende der DDR fällt für junge Leute in Miriams Alters zusammen mit den ganz normalen Abnabelungsprozessen. Als Teenager ohnehin im Konflikt mit den Eltern, sehen sie, wie sich diese Generation selbst in Frage stellt. Sie sind überzeugt, ein solches Desaster wird ihre Generation nicht hinterlassen. Ein Gefühl unendlicher Überlegenheit gegenüber zerfallender Autorität. Starre Fronten brechen auf, um Platz zu schaffen für Zukunftsvisionen der neuen Art.
Dann die ersten Ferien, die Miriam allein plant: mit dem Zug durch halb Europa, eine Welt ohne Grenzen feiern. Sie fährt mit einer Freundin los und kommt mit einem Sack neuer Freundschaften zurück. Miriam stürzt sich in eine internationale Gemeinschaft, versucht, die Konflikte anderer zu verstehen, mit denen zu leiden und zu lachen. Genau das ist es, was sie sich vorgestellt hat, grenzenlos leben, grenzenlos verantwortlich sein.
Einer ist da, ein bisschen älter, bereit, alles zu durchdenken, ein Amerikaner, locker, originell: »Es gibt keine Probleme, die ungelöst bleiben« - wunderbares Credo. In den nächsten Monaten ihrer Freundschaft gerät jedes noch so kleine private oder politische Ereignis zum großen Thema, das sie gemeinsam besprechen oder beschreiben. Miriam glaubt, es gäbe nichts, was sie nicht voneinander wüssten. Dann passiert etwas, was niemand voraussehen konnte. Krieg am Golf und Bob, der Reservist des Marinekorps, zieht mit.
Ein stolzer Held
»Krieg kam in meiner Lebensplanung überhaupt nicht vor. Im Jahr der Wende hatte ich nicht ein einziges Mal daran gedacht, dass es zum Einsatz von Militär kommen könnte. Man konnte für ein paar Wochen im Knast landen, das wussten wir. Aber die Erziehung zur Friedfertigkeit hatte bei mir so perfekt gewirkt, dass Krieg in der Vorzeit von Zivilisation rangierte. Es gab in meinem Kopf tausend Möglichkeiten, ihn zu vermeiden. Und nun war ich plötzlich hinein gezogen. Ich schrieb oder telefonierte zweimal pro Woche mit Bob. Weltpolitik ganz privat, sie machte mich hilflos. Was sollte ich ihm sagen? In meinem Kopf tobten sich Remarque, Simonow und Brecht aus. Ich versuchte mich zu erinnern, was ich je über Konfliktvermeidung gelesen hatte. Warum sollte das jetzt nicht möglich sein? Ich entwarf wunderbare Begründungen, doch instinktiv verhielt ich mich, wie alle anderen es vor mir auch getan hatten: Dem da draußen bloß den Rücken freihalten, aber ich kam mit mir selbst nicht mehr zurecht.«
Wieder geht sie mit auf die Straße, diesmal gegen den Krieg am Golf. Wenn sie nach Hause kommt, schreibt sie Briefe an Bob und verschweigt, was sie tut. Sie zerfällt in eine Person, die den Krieg ablehnt, und eine andere, die um den Angst hat, der es richtig findet, seine Haut zu Markte zu tragen. Der nichts von Öl am Golf wissen will. »Ohne im einzelnen zu begreifen, reagierte ich genau so, wie es im Lehrbuch der Politischen Ökonomie stand. Und Bob hatte die Rolle übernommen, die dort stets den Amerikanern reserviert war. Wir waren wieder in unseren Biographien angekommen ...«
Miriam versucht, der Berichterstattung zu glauben und die Computeranimationen von Raketeneinschlägen für bare Münze zu nehmen. Sie hat jüdische Vorfahren, Israel ist bedroht. Sie zweifelt nicht an der Berechtigung, Saddams Invasion zu stoppen, sie zweifelt an den Mitteln, mit denen es geschieht ...
Bob entgleitet ihr, als er seine Rolle am überzeugendsten zu spielen glaubt: seine Briefe und Fotos erzählen von Einsätzen und Erfolgen und von Siegen. Keine Spur Nachdenklichkeit, auch nicht, als er schon lange wieder zu Hause ist. Kein Gedanke an einen friedlichen Ausgleich, nach dem zu suchen sich gelohnt hätte, bevor Bagdad brannte. Dass es Amerika nicht an Interessen fehlt, die zum schnellen Krieg rieten, das erscheint ihm absurd. Er will gelobt sein, von Miriam und von der Welt. Er schickt Zeitungen, die ihn als stolzen Kriegshelden feiern.
Die Illusion, Menschen müssten nur jung sein, um ähnlich zu denken und zu fühlen, ist zerstoben. Miriam wird auf ihre Erziehung zurückgeworfen. Hat es mit dem Untergang des Sozialismus zu tun, dass der Golfkrieg überhaupt ausbrechen konnte? Ist sie untauglich für diese neue Welt? Haben sie die Gespräche mit den Eltern auf eine falsche Fährte gelockt? Sie war ja bereit, die eigenen Werte zu überprüfen, aber das Resultat durfte nicht vorgegeben sein. Andere aus ihrer Umgebung hatten längst alles über Bord geworfen. Miriam ist eine nachdenkliche Person, die Dinge prüft, bevor sie damit umgeht.
Ein schwarzer Kasten
Das Abitur endlich in der Tasche, erhofft sie Aufklärung durch Wissen. Ein Studium der Politologie wird sie künftig weniger hilflos dastehen lassen. Glaubt sie und lässt sich einschreiben. Der Zerfall ihrer kleinen Welt hat mit Verzögerung begonnen. Nicht die Wende stürzt sie in ein Vakuum. Zwar hat ein Elternteil die Arbeit verloren, aber die Familie funktioniert, und überall sind Auffangnetze. Jungbürger der Bundesrepublik, das Leben ante portas, will sie hineinfinden in diese andere Gesellschaft. Etwas verunsichert ist sie schon, immer mehr DDR-Unrecht kommt ans Licht, von dem sie nichts geahnt hat. Aber für eine junge Frau mit jüdischen Wurzeln kann zumindest der Antifaschismus nicht angetastet werden, ein Grundwert ihrer Erziehung, wie sehr »verordnet« er auch dargestellt wird.
Aber die neuen politischen Verhältnisse produzieren eigene Fallgruben, zerstören Illusionen, setzen Grenzen. Man läuft gegen Wände, alles, was man tut, bleibt ohne Wirkung. Demokratie als Spielwiese, auf der man herumtoben kann, ohne irgend jemanden zu beeindrucken. Sie, die eben noch die Welt verändern wollte, fühlt sich als Sandkorn in der Wüste. Die scheinbar verschworene Gemeinschaft der bisherigen Clique zerbricht. Gespräche versiegen. Plötzlich spielt eine Rolle, woher sie kommt. Debatten an der Uni werden mit Lautstärke gewonnen. Miriam ist leise. Angeblich spricht man alle Dinge direkt an, aber da wabern die Vorwürfe gegen den Osten schlechthin, selten fassbar, die Atmosphäre belastend. In einem Seminar über Marx wirft man ihr marxistische Vorbildung vor.
»Ich hatte das Gefühl, dieses Studium führt zu nichts, es ist Augenauswischerei, ein großes Kasperletheater, aufgeführt, um der Parteienpolitik Material in die Hand zu geben. Darin wird vorgeschlagen, was sonst auch getan worden wäre. Widersprechende Ergebnisse wandern direkt in die Ablage.« Das neue Fach erklärt zwar vieles, aber Änderungen schließt es aus.
Was ist richtig, was falsch? Ist Friedfertigkeit verteidigenswert? Warum wird der Lächerlichkeit preisgegeben, was eben noch Lebensmaxime war? Den anderen nicht über den Tisch zu ziehen, gilt plötzlich als dumm. Der Gebrauch von Ellenbogen als notwendig. Die Verweigerung von Solidarität als nützlich. Kinder aus der Nachbarschaft haben daraus den Schluss gezogen, das Gegenteil müsste richtig sein: Antifaschismus ist verpönt - also schaut man sich beim Faschismus um. Gleichaltrige werden zu Glatzköpfen.
Die DDR war die größte DDR, die es je gab, und war unser - was wollten dann andere hier. Die Sätze aus alten Witzen treiben giftige Blüten. Die Erwachsenenwelt hat sich zurückgezogen, beschämt von dem, was öffentlich wird. Doch warum fühlen sich auch die schuldig, die nichts mit dem Unrecht zu tun haben? Der neue Mediensport heißt: Nichts war schlecht genug, man muss es schlimmer machen. Selbst verurteilte KZ-Größen wagen den Angriff und präsentierten sich als Verfolgte des Kommunismus mit Anspruch auf Entschädigung.
Miriam und ihre Altersgefährten können sich nur an sich selbst festhalten. Wer in sich ruhend Entscheidungen trifft, bleibt ungefährdet, wer ins Wanken gerät, weil die Umgebung schwankt, fällt der neuen starken Truppe in die Arme, die das tut, was die Tabus der Vergangenheit bricht. Der Torwart des Handballvereins zum Beispiel, in dem die Mädchen und Jungen spielen. Einer mit großer Klappe, dessen Sprüche keiner ernst nimmt. Erst kommt er seltener, es gibt Wichtigeres als Punktspiele. Dann gar nicht mehr. Heute zieht er kahl rasiert durch die Straßen. In einer Gruppe, die Miriam Angst macht.
Epilog
Sie gab ihr Politologie-Studium auf, als der Kosovo-Krieg losbrach. »Ich konnte die Heuchelei nicht mehr ertragen. Die hektische Geschwätzigkeit des Verteidigungsministers ließ bei mir alle Warnsignale aufleuchten. Wer sich so eifernd gibt, muss sich selber überzeugen. Wer zum Vergleich mit Auschwitz greift, lügt. Mein Fach war mir suspekt geworden.«
Seit dieser Zeit gibt es den Glaskasten. Als Fluchtort. Das Gefühl, es bringt nichts, etwas zu wissen, sich zu engagieren, brach so vehement über Miriam herein, dass sie sich erst einmal aus allen informellen Zusammenhängen zurückzog. Und nach Gott suchte. Sie ging einfach in eine Kirche, irgendwo mussten Wahrheit und Redlichkeit sein. Sie versuchte das Gebet. Ließ sich hineinfallen in diese fremde Art der Hoffnung. Aber die Kirche unterstützte den Krieg. Da war für sie kein Weg.
Was ihr blieb, war die Auszeit, die Wolke ganz weit oben. Sie studiert wieder, Geschichte und Englisch, und ist ganz sicher, der Glaskasten wird nicht ihr letzter Aufenthaltsort sein. Sie lebt schließlich als Jüdin in Deutschland. - Die neue Welt ist so fertig wie die alte , sie weiß es inzwischen.
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