Einmaliges Leben

BEWAHRER VON ZEIT Anmerkungen zum 75. Geburtstag von Siegfried Lenz am 17. März

Ohne Erinnerung ist der Mensch eine Hülse, gefüllt mit Spreu, die jeder noch so kleine Windhauch wegpusten kann. Eine mehr oder weniger stabile Schicht Ereignis überlagert Erinnerung und lässt im gemeinen Alltag nur jenen Teil zu, der nützlich erscheint. Manchmal aber bricht sie hervor, überschwemmt Denken und Handeln und wertet das scheinbar Gefestigte um. Literatur kann ein Anlass dafür sein, die "wunderbare Möglichkeit, etwas durch ein anderes darzustellen, Nähe aus der Ferne zu gewinnen", schreibt Siegfried Lenz in seinem Reflektionsband Mutmaßungen über die Zukunft der Literatur.

Geprägt von den Katastrophen und Brüchen des vergangenen Jahrhunderts, deren Verursacher seine Landsleute waren, ist Lenz so etwas wie der Lotse im unruhigen Fahrwasser des Nachkriegs - seit kurzem Ehrenbürger von Hamburg, seiner Wahlheimat - viel mehr als ein Chronist: er ist ein Bewahrer von Zeit, der Gewesenes zum literarischen Exempel erhebt, ohne allzu auffällig im Selbsterlebten zu schöpfen. Einer, der schreiben musste, weil es ihm darauf "ankam ..., gemachte Erfahrung in der Erzählung wieder zu beleben und sie einem Leser zum Vergleich anzubieten. ... Niemand kann die präzise Wiederholbarkeit erfahrener Augenblicke garantieren. Erst durch Verwandlung, und das heißt durch Erfindung, erhält Erfahrung eine Chance, auf langfristige Weise ›wahr‹ zu werden." Schreibt er in dem kleinen Heftchen Wie ich begann, das "sein" Verlag den Überlegungen über die Zukunft der Literatur kürzlich voranschickte. Er definiert damit zugleich den Abstand zwischen Erzähler und Chronisten, den er für sich selbst beansprucht. Beide Schriften bilden eine Art Rahmen, in dem Lenz sich und das Werk von Kollegen gleichsam von draußen besieht, während er drinnen dem Warum des Autors nachspürt. Und nach der Kraft des Erzählten forscht, die in das 21. Jahrhundert tragen könnte.

Er befragt die Literatur-Geschichte seit Gutenberg in Das Ende des Gutenberg-Zeitalters?, seine Lehrmeister, vor allem in der amerikanischen Literatur, in Aus der Nähe, beschreibt die Grenzen des Literarischen in Das Kunstwerk als Regierungserklärung, setzt sich mit den Virtuosen der hypertextuellen, an den technologischen Abläufen orientierten "Hervorbringungen" auseinander, in denen Literatur als unbegrenzter Prozess begriffen wird, die den einzelnen Autor nicht braucht, ja ausschließt, weil von allen und jedem weitergeschrieben werden kann. In ihnen wird weg geblendet, was der Autoren-Generation von Lenz unverzichtbar ist - Zeit als epische Kategorie, die aus Beliebigem Wichtiges macht, der Interpretation des einzelnen Lesers, vorgelegt vom einzelnen Autor, aussetzt und so zu einem ganz individuellen und doch allgemein gültigen, Erlebnis wird.

Lenz misstraut dem einschichtig faktologischen Aufbau einer Geschichte solange, wie sie nicht durch Phantasie bis an ihr Ende getrieben, durch Beifügungen ergänzt, überprüft und in einen Kontext gestellt ist. Raum und Zeit bleiben für ihn unverzichtbare Ordnungsfaktoren, ohne sie verlöre Literatur die Form, würde zu einer amorphen Masse Text, beliebig.

Aber mindestens Raum hat sich seit Lessing verändert. Siegfried Lenz weiß einen Teil seiner Wurzeln noch im Nationalen, aber Verästelungen, Prägungen weisen darüber hinaus, sowohl in die russische wie vor allem in die amerikanische Literatur, die er bewundert. Hemingways Einfluss ist in den frühen Erzählungen kaum zu überlesen. Dennoch ist für Lenz "die inspirierende Quelle der Literatur - wie überhaupt der Kultur - nicht die Welt, sondern die Region, der überschaubare Ort, die erfahrbare Nähe ...". Er setzt Region gegen das Globale ebenso wie gegen das Nationalistische. Das Individuum ist Maß aller Dinge, das macht seine Literatur sympathisch warm. Was es darüber hinaus an Geschriebenem gibt, ist für ihn die notwendige, eigenständige Kategorie Information, die der Literatur dauerhaft nicht schaden, sie im Gegenteil inspirieren wird. Tatsächlich ist das Ende dieser Kunstform tausendfach vorausgesagt worden. Aber Literatur ist geblieben, was sie war: Angelegenheit einer Minorität.

Wenn sich sein Plädoyer für dauerhafte Unverzichtbarkeit des Metiers dennoch wie ein Ruf in der Wüste ausnimmt, hat das mit dem veränderten Inhalt vieler literarischer Werke zu tun: ein gut Stück weg vom Erzählerischen hin zum Assoziativen. Anklicken genügt, könnte über vielen stehen, etwas, das Geschriebenes als Zweitverwertung annotiert. Einem Autor wie Lenz eine schmerzhafte Vision. Seine Geschichten sind wie Bäume, sie brauchen Wurzel, Stamm, Äste, Blätter. Erst dann werfen sie Schatten bis in die Seele. Erst dann sind sie in der Lage, Impulse zu geben, Denken zu stimulieren. Wird die Minderheit, die heute zur Literatur greift, sie tatsächlich auch im neuen Jahrhundert als "Axt für das gefrorene Meer in uns" oder "Spaten, mit dem man sich selbst umgräbt" brauchen? Wird die Lesergemeinde noch so zahlreich sein, dass ein Literat in herkömmlicher Weise als Literat leben kann?

Das ist keineswegs eine unzulässige Personifizierung des Problems. Eine andere Machart wird die Intensität verändern, in der ein einzelner Autor zum einzelnen Leser sprechen kann und also auch das Produkt. Die besondere Art, etwas schreibend in Besitz zu nehmen, wird die besondere Art, es lesend aufzunehmen, beeinflussen, es hat sie schon beeinflusst. Was Lenz als großartige Kraft in den Romanen William Faulkners beschreibt, "daß nichts seinen Abschluß gefunden hat, keine vergangene Schuld, kein noch so entlegenes Unglück", das wünscht er auch für die eigene Literatur. Es erreicht seine Leser - noch. Aber in der Hektik des Alltags ist der "Spaten" schon stumpfer geworden, er gräbt nur noch in kurzen Zeiträumen. Langsamkeit als Stilmittel intensiver Weltbetrachtung, die Gewesenes und Zukünftiges ineinander verschränkt, bedarf penibler Genauigkeit. Und die kommt aus der Mode.

Vielleicht ist Lenz einer der Letzten, bei dem sich eine zeitlich und räumlich exakt definierte Gruppe von Menschen (die deutsche Nachkriegsgesellschaft) aus der Summe erfahrener Vergangenheiten erschließt. So zu lesen in Deutschstunde, Heimatmuseum, Das Vorbild ...

Die beiden im vergangenen Jahr erschienenen Büchern, der Roman Arnes Nachlaß und der Erzählband Ludmilla fügen dem die Erfahrungen des späten Jahrhunderts hinzu. Sie verkörpern die Abkehr von den großen Idealen, die schon lange nicht mehr dominieren. In ihnen ist der Alltag auf die ihm gemäße Dimension geschrumpft. Das scheinbar Übersehene rückt in den Mittelpunkt der Lenzschen Literatur, allerdings immer noch undenkbar ohne die Geschichte davor. Sie bildet den Hintergrund, der die Urteilskraft belebt, das Gedächtnis aktiviert, die Phantasie auf den Weg schickt, damit sie die Welt in einer Träne wieder findet. Schicht für Schicht will sie in die Tiefe graben, bis das Handeln der Figuren auch den Leser verändert, "Offenbar eine riskante Tätigkeit: Wir geben etwas von uns auf und erfinden uns neu", heißt dieser Prozess bei Lenz.

Die Titelgestalt des jüngsten Romans, Arne, ist so eine Figur, deren Dimension unentschlüsselbar bliebe, gäbe es nicht die nur angedeutete Geschichte davor. Mit Arnes ganz privater Not versucht Lenz "die kalte Mathematisierung der Welt ... zu unterbrechen..." Der ungewöhnlich begabte Junge, ist bemüht, die Oberflächlichkeiten seiner Altersgefährten zu verstehen und dennoch außerstande, sich einzupassen. Ebenso Ludmilla aus dem gleichnamigen Erzählungsband, die in eine Welt kommt, deren Muster sie nicht deuten, deren Verhalten sie nicht billigen und deren Träume sie nicht nachvollziehen kann. Was vom Leben russlanddeutscher Aussiedler reflektiert wird, ist eher zufällig. Worauf es ankommt, ist der Zusammenprall von Milieus: Wenn ein befreundeter Fotograf Menüs entwirft, um für die Satten appetitanregende Fotos zu arrangieren, dann gibt Ludmilla in diesem Interieur den Part der Unschuld, der die Distanz zum Sinnvollen absteckt. Unendlich.

Und was ist das, was dieser Arne nicht bewältigen kann, das ihn schließlich in den Tod treibt? Der bedrückenden Dimension des Verlassenseins, von Wurzellosigkeit dieses Waisenkindes kann die sich mühende "Ersatz"-familie nichts entgegen setzen. Denn das "furchtbare Ereignis", über das er nicht sprechen kann und das, vorsorglich, von seiner neuen Familie weggeschlossen, eingemauert wird, hat sich längst wie eine schwere Kette um ihn gelegt. Gefangen und hilflos steht er einer Welt gegenüber, die für Außenseiter keinen Platz hat, selbst dann nicht, wenn sie tolerant sein möchte. Denn auch Außenseiter sind von ihr geprägt und deshalb unfähig, die Kraft der anderen für sich zu mobilisieren. Zukunftslosigkeit zieht ihn mit in den Untergang. Irgendwo in den Abgründen der Normalität scheint der Pol eines Magnetfeldes von Überrollten, Ausgestoßenen, Überflüssigen zu sein, der kraftvoll zieht, vor dem die schüchternen Versuche, sich ins Besondere zu flüchten, scheitern müssen. Gesellschaft kann nur herkömmlich reagieren. Denn selbst in ihrer Bewunderung steckt noch Ausgrenzung.

Lenz' breiter, Zeit umgreifender Ansatz ist für den schnellen Leser vielleicht nicht prall genug. Dem Geduldigen bietet er das ganze Spektrum des Denkbaren. Wo das Besondere, das Andere misstrauisch beäugt und immer öfter bekämpft wird, ist die beschreibende Darstellung eines Autors wie Lenz Einmischung. Politisch wie moralisch. Eine Laudatio für das Einmalige, das reich macht.

Sein Fazit allerdings ist Skepsis. "Mit Vernunft (ist) kein Staat zu machen...".

Siegfried Lenz: Mutmaßungen über die Zukunft der Literatur, Verlag Hoffmann, Hamburg 2001, 78 S., 20,- DM

Siegfried Lenz: Wie ich begann, Verlag Hoffmann, Hamburg 2000

Siegfried Lenz: Arnes Nachlass. Roman, Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 1999, 207 S., 29, 90 DM

Siegfried Lenz: Ludmilla. Erzählungen, Verlag Hoffmann, Hamburg 1996, 174 S., 32,- DM

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