Fallschirme fliegen

Worte wie Wolken In "Das Weinen des Schmetterlings" zeichnet die vietnamesische Autorin lê thi diem thúy das Jahrhundert der Heimatlosen

Flucht. Leben in der Fremde. Diejenigen, die nicht unterwegs sind, tun so, als wüßten sie genau, was passiert und warum das so ist und dass es nicht so sein müßte. Diejenigen, die flüchten, wissen nur, warum sie zu Hause nicht bleiben können. Was erwartet sie? Wo werden ihre Füße je wieder Boden berühren, von dem sie sagen, hier gehöre ich hin? Ihr einziger Begleiter ist Hoffnung.

Das war bei den Boat-People aus Vietnam so, das ist so, wenn Marokkaner die spanisch-portugiesische Küste erreichen, die Kurden vor der italienischen stranden, Menschen schwimmend das andere Ufer erreichen wollen. Hoffnung macht Entbehrungen erträglich, die Lager, die Ablehnung nach der Ankunft. Hoffnung ist wie eine Droge. Wenn sie verfliegt, ist da nur noch ein großes Loch, dessen Grund sie schluckt, immer wieder zurückholt, als wären sie Käfer, die auf losem Sand einen steilen Hang hinaufklettern und immer wieder abstürzen.

Fünf vietnamesische Männer mit dem sechsjährigen Kind aber haben Glück: Sie erwischen eines der überfüllten Boote, werden von einem amerikanischen Zerstörer an Bord genommen. Ein älteres Ehepaar aus den USA bezahlt ihre Überfahrt, nimmt sie auf im Haus des Sohnes, ebnet einen Weg, der - holprig genug - aber doch ein Weg ist. Einer der geflohenen Männer ist der Vater des kleinen Mädchens, Ba, eigentlich unterwegs mit Frau und Kind, die Frau aber schafft es erst zwei Jahre später. Das hört sich alles in allem an wie eine einigermaßen glückliche Geschichte. Aber das ist sie nicht. Das Weinen des Schmetterlings - so der Titel des Buchs - ist leise, vom Rauschen des Lebens übertönt. Es erschüttert die Beteiligten, bis sie zu brechen drohen.

Die 1972 in Südvietnam geborene Autorin lê thi diem thúy hat die Geschichte ihrer Familie wie eine chinesische Tuschezeichnung gemalt, sanfte Linien, zwischen denen Raum für Gedanken entsteht. Alles in unaufdringlichen Pastelltönen, Worte wie Wolken, flüchtig und blumig, bevor in diesem kalifornischen Schönwettergebiet ein schweres Gewitter die Szenerie aufreißt und den Blick auf Heimatlosigkeit frei gibt. Linda Vista heißt das Örtchen, in dem die Vietnamesen ankommen, einigermaßen untergebracht werden und sogar Arbeit finden.

Zunächst wird streng aus der Perspektive des Kindes erzählt: Warum gefällt den Hauseigentümern das Pappzimmer nicht? Warum führt die Befreiung des gläsernen Schmetterlings zur Katastrophe? Sie hört, "kein Schmetterling kann in einer Glasscheibe überleben ... die Seele ist längst davongeflogen ... Wie kann der Schmetterling dann aber weinen?" fragt sich das Kind und versucht, ihn zu befreien. "Das Ergebnis war, dass Mel (in dessen Haus sie wohnen) meinen Ba, die vier Onkel und mich aufforderte, unsere Sachen zu packen ..."

Als sie sich die nächste Wohnung schön reden, weil ein kleiner Pool da ist, in der Phantasie ein Stück von jenem Meer, das Vietnam mit Kalifornien verbindet, wird er zugeschüttet. Das zarte Pflänzchen zu Hause seiner Wurzeln beraubt. "Nirgends ist Blut, nur in meiner Kehle, die euch all dies erzählt." Es ist nicht Sehnsucht nach Vietnam - "Meine früheste Erinnerung an meinen Vater ist von den Stacheldrahtspiralen eines Gefangenenlagers in Südvietnam umrahmt ... Anzügliche Blicke... Münder saugen Luft ein, formen sie zu tiefster Verachtung ... Ich bin der neue Ast, unter dem sich der Baum biegt ..." - nur das Gefühl, auch hinter dem großen Meer nicht ankommen zu können und die merkwürdigen, eigens ihnen auferlegten Verpflichtungen "keine Fischgräten in den Abfallschredder zu geben", machen die Seele schwer, engen den Geist ein, verwirren. Ihre endlich nachgekommene Ma rasiert sich den Kopf und die mühsam angeschafften Habseligkeiten "fliegen durch die Luft wie Vögel, die kein bestimmtes Ziel haben". Bis sie zerschellen. Sie quartiert die Tochter um, lässt das Foto von Vater und Mutter in ihrem Zimmer "wohnen"; als das Haus brennt, bringt sie sich fast um, weil "die Eltern" noch drin sind. "All die Fäuste sind in meiner Kehle, schneiden sich an Geschirrscherben, und die Fische schwimmen im Kreis; sie sehen nichts wegen des ganzen Bluts."

Menschen verlieren in diesem Buch die gewohnten Umrisse, "falten sich zusammen", "machen sich so klein, dass kaum noch etwas von ihnen da ist". Die Welt der Flüchtlinge versinkt in Trunksucht, Irrsinn, Aggression. Um zu entkommen, schlüpft das Mädchen in die Haut ihres ertrunkenen Bruders, das macht sie stark. Sie entflieht an die Ostküste.

Heilung durch Entfernung, Vereinzelung. Jeder Baum braucht eigene Wurzeln, muss sie selber austreiben. Der Bruder starb beim Fischen, nicht beim Versuch, zu fliehen. Das macht den Unterschied. Für ihn gibt es einen festen Platz, an ihm ist Halt.

Die Autorin erzählt lyrisch, in kurz geschalteten Rückblenden. Die Fakten erklären weniger als die Metaphern, die fast alle der Zeichenwelt des fernen Ostens entstammen. Nicht die Geschichte der Boat-People wird aufgeblättert, es geht vielmehr um die Seelengeschichte von Flüchtlingen, die vom Verfall der Persönlichkeit, dem langsamen Absterben der Hoffnung und vielen kleinen Ankünften geprägt wird. Gerade in diesen Passagen des Buchs aber versagt die Perspektive. Die räumliche Trennung zwischen Eltern und Kind gibt wenig Möglichkeiten, genau zu sein. Seit wann atmen die Eltern weniger verkrampft, fließt der Strom ruhiger? Ba findet eine Wohnung und Arbeit als Gärtner. Die Sonne Kaliforniens brennt auf tropische Pflanzen wie in Vietnam, nur feuchter ist es dort. Ma kocht vietnamesische Gerichte in einem noblen Restaurant. Von der Fast-Trunksucht, dem Beinahe-Irrsinn bis zu diesem Normalpunkt fehlen dem Leser nachvollziehbare Stufen.

Die Tochter schreibt. In einem anderen Land, einer anderen Sprache. Die Geschichte von Umherfliegenden, millionenfaches Schicksal, losgerissen von Kriegen und Katastrophen, unterwegs als Fallschirme, die irgendwo herunterfallen, von jedem Windstoß aufgehoben und neu verwehen, fast zerrieben werden, bevor sie sich irgendwo verhaken.

Die sprachliche Kraft dieses Erstlings kommt aus einer Mischung ostasiatischer Tradition und aktuellem Thema. Aber sie läuft Gefahr zu verfliegen: Die aus der chinesischen Malerei bekannte leichte Linienführung braucht in der Literatur faktologische Gegenpole, um nicht ins Triviale zu driften.

lê thi diem thúy: Das Weinen des Schmetterlings, Roman, Luchterhand, München 2003, 159 S., 16 EUR


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