"Geh nach Sibirien junger Mann, dort wachsen Dir die Gürkchen ins Maul!" Maxim Gorki soll es gesagt haben und Helmut Höge stellt es seiner Reportage über Neurosibirsk voran. Es verheißt ein ganz anderes Sibirien als das in Redewendungen kolportierte. Ab nach Sibirien, sagt man da, wenn etwas oder jemand so weit fortgeschickt werden soll, dass möglichst keine Spuren mehr zu finden sind, in die Verbannung also. Schon von den russischen Zaren so gehandhabt, von Stalin auf die beschämende Spitze getrieben aber auch in unserer Zeit häufig genutztes Mittel der Disziplinierung von Unangepassten.
Noch immer schluckt die Weite, was in der Nähe aus unterschiedlichen Gründen nicht ertragen wird. Intellektuelle und Nichtangepasste, Verurteilte und die, die ihr Glück suchen in den Goldgruben, auf den Gasfeldern, an den Küsten des Eismeers. Einige der sibirischen Siedlungen wurden von denen gegründet, die nach Ablauf ihrer Strafe nicht zurückgingen in die Heimat. Wer Nähe nicht erträgt und auch extreme Naturbedingungen nicht fürchtet, wird Sibirien lieben lernen. Das war in den vergangenen Jahrhunderten so und ist es immer noch. Die Weite ist Sibiriens Mitgift und Fluch. Von denen, die zur Verbindung mit dem Achten Kontinent, so der Titel eines Buches von Gudrun Ziegler, drängen, gerne angenommen und manchmal hemmungslos ausgenutzt - von Bewohnern, wie Zugereisten.
Der Volksmund spricht von sibirischer Kälte, die jedes Leben erstarren lässt oder von Sibiriens ungehobenen Schätzen, wenn angedeutet werden soll, wie viele Möglichkeiten dieser Teil des eurasischen Kontinents bereit hält, die der Entdeckung harren -Themen in Helmut Höges Reportage. Andere Autoren beschreiben die sibirische Wirtschaft, die unendliche Weite, die scheinbar alles schluckt, wie Gudrun Ziegler, übersehen aber auch nicht das, was der Mensch im dünn besiedelten Raum an Schrott und Öl und Müll in wenigen Jahrzehnten hinterlassen kann. Mütterchen Lena, dieser gewaltige Strom, der Sibiriens Lebensader ist und die großen russischen Dichter zu sentimentalen Versen inspirierte, bietet alljährlich die schönsten Naturschauspiele, wenn endlich Frühling wird. Aber an den Ufern treiben die Reste der Zivilisation bizarre Gebilde zusammen. Immer noch zu viele Menschen scheinen zu glauben, Natur könne auch den schlimmsten Unrat zurück verwandeln in Erde, auf der schließlich ein Baum wächst. Der tausendfach besungene herrliche Baikal weckt sentimental schwärmerische Stimmungen ebenso wie das deutsche Heideröslein. Und bei den Älteren im Osten Berlins die Erinnerung an das Kriegsende, als das Alexandrow-Ensemble auf dem Gendarmenmarkt zwischen zerstörter Hugenottenkirche und Deutschem Dom, auf den erhaltenen Stufen des Schauspielhauses diese Lieder sang. Aber der Baikal, dieses scheinbar unerschöpfliche Reservoir an Schönheit, hat gelitten und ist längst zum Sorgenkind der Umweltschützer mutiert. Abenteuer - auch technischer Art - haben einen Preis.
Apropos: wenn es um Abenteuer geht, ist Sibirien offenbar immer wieder einen Aufenthalt wert. Öffentlich-rechtliche Sender schickten vor einigen Jahren komplette Familien dorthin - Überlebenstraining unter abgeschwächten Bedingungen. Jugendliche, die gar nicht mehr zu bändigen waren, sollten die wirklichen Härten des Lebens erfahren. Stefan Scholl hat die jungen Menschen begleitet und seine Erfahrungen in dem Band Aus dem macht ihr keinen Menschen mehr - Mit deutschen Crashkids in Sibirien zusammengefasst, Sibirien auch als deutsche Erziehungsanstalt. Aber das Land macht keine neuen Menschen. Für ein Jahr zusammen mit Pädagogen und Sozialarbeitern, unter unwirtlichen Bedingungen zu leben, ändert noch nichts am Beziehungsstress untereinander oder der erwarteten Leere künftigen Daseins. Die deutschen Zusammenhänge und Nötigungen werden nur ergänzt. Durch die raue Natur und Sibiriaken, deren Probleme nicht wirklich bis ins Bewusstsein der Jugendlichen dringen. Und durch eine in Sibirien besonders beliebte Art ihrer Bewältigung mittels Alkohol. Hinzu kommt: Menschen, die von der Natur geformt sind und ihr mehr oder weniger erfolgreich trotzen, sind nicht besonders redselig. Sie gehen selten auf Fremde zu. In solchen Landstrichen gilt der Bär, der allein durch die Lande streift, als das erfolgreichste, am meisten bewunderte Tier. Gefolgt vom Wolf. Das Experiment Erziehung scheiterte.
Die Geschichte der Eroberung Sibiriens ist ein Thema für Reporter aus vielen Ländern. Es ist, als hätte in den vergangenen Jahren im westlichen Europa eine Art Fieber um sich gegriffen. "Auf den Spuren von ..." - Sibirien zu durchqueren, ist in Mode gekommen. In den letzten Jahren sind ein gutes Dutzend Titel erschienen, die beschreiben, wie sich nach dem Ende der Sowjetmacht das Leben wandelte, was von den Ursprüngen noch vorhanden, was verändert ist. Der englische Autor Colin Thubron machte sich auf, die sibirische Seele zu finden: Sibirien: Schlafende Erde, erwachendes Land. Vieles ist nicht mehr so eindeutig: Wer von den Russen, die hierher kamen, nicht von den Naturvölkern lernte, blieb nicht lange oder versank im Alkohol. Die Jakuten und Ewenken aber schauten von den Russen ab, was sinnvoll schien und sind inzwischen mit ihnen verbunden, verschwägert, verwandt. Sie haben gelernt, die Natur zu akzeptieren und zu nutzen. Die Unendlichkeit, vor der jedem Mitteleuropäer auch ein wenig schaudert, ist ihr Lebensraum. Das scheinbar Unberührte ist aber schon lange nicht mehr unbeschadet und bedarf besonderer Schonung. Die fordern sie zwar ein, durchsetzen aber können sie sie nicht. Natur ist der Wert, der den Stolz auf die sibirische Heimat begründet und neue Achtung von allen erfahren muss. Das allerdings ist eine Erkenntnis der letzten zwanzig Jahre.
Thuron beschreibt vorgefundenes Elend, Kuriositäten, bürokratischen Nonsens gern als sowjetische Hinterlassenschaft. Er lässt Popen erzählen oder die Vertreter der neuen Macht, oder beschreibt ganz einfach, was er sieht und setzt es in Beziehung zu dem, was er aus älterer Lektüre oder der Erfahrung kennt. Manfred Cybalskis Ab nach Sibirien. Eine Reise in die Gegenwart widmet sich eher den Jahren seit dem Ende der Sowjetmacht, in denen er als Vertreter einer Firma durch Sibirien reiste. Er erlebt die Zeit, in der am meisten für sich zusammen raffte, wer am schnellsten die herrschende Rechtlosigkeit der Nachwendezeit realisierte. Die Tauschwirtschaft nahm "geradezu groteske Formen an. Einige Piloten und Stewardessen einer... pleite gegangenen Fluggesellschaft erhielten als Abfindung ein Flugzeug ihres bisherigen Arbeitsgebers übereignet. Aber während das noch funktionstüchtige Fluggerät durch die Firmenbosse schnell gewinnbringend verkauft wurde - natürlich zum Wohle der eigenen Taschen - handelte es sich bei der Maschine für die entlassenen Mitarbeiter um einen Schrotthaufen." Seine Reise ist eine Sammlung komischer, tragischer, wenig anziehender, manchmal aber auch irgendwie vertrauter Abläufe, die alle eines gemeinsam haben: Sie statten auch den kleinen Mann mit einem Potential an Macht aus, das seine Mitbürger bis zum Platzen reizen kann. Dokumente erweisen sich als nicht ausreichend, Papiere verschwinden für einige Zeit, Absprachen werden nicht eingehalten. Aber auch wenn nichts zu gelingen scheint, am Ende hat alles geklappt.
In den meisten Büchern entwickelt sich Sibirien zu einer Art Projektionsfläche, auf die Wünsche und Vorstellungen vom Leben geworfen werden, auf der man sucht, was zu Hause gängig ist, und vermisst, was man davon nicht findet. Auf dieser Fläche kann so ziemlich alles erscheinen: Die heimischen Probleme vergröbert oder minimiert, die Selbstgerechtigkeiten, die suggerieren, Westeuropäer wären pfleglicher oder vorsichtiger mit Natur und Ressourcen, vor allem mit den Menschen umgegangen, aber auch die idyllischen Vorstellungen von der Zukunft und einem Leben in unberührter Natur.
"Immer dasselbe Elend" heißt es in Ulla-Lena Lindbergs Band Sibirien - Selbstporträt mit Flügeln. Der sensible Band, der eigenen Erfahrungen von vor zwanzig Jahren und einer verlorenen Liebe nachspürt, zeichnet ein aus Verständnis und sentimentaler Verbundenheit gewonnenes Bild, bei dem sich Trauer über Verluste und die Freude am Einmaligen die Waage halten. Der Band brilliert mit wunderbaren Naturbeschreibungen. Immer aber spielen Menschen eine Rolle, die mit Improvisationsgabe und unglaublicher Hilfsbereitschaft das möglich machen, was für die Bürokratie gerade undurchführbar war. "Ich fiel der Länge nach über Sibirien, indem meine Füße am Ural hängenblieben und mein Kopf am japanischen Meer landete..." Die meisten Autoren bewegen sich entlang der wenigen Straßen und im Umfeld der transsibirischen Bahn, einige Ausflüge per Hubschrauber kommen hinzu. Hat man Sibirien dann schon entdeckt?
Goldgruben und Diamantenfunde, Gasvorkommen und Öl haben Legenden über Reichtümer unter dem ewigen Eis geschrieben. Und natürlich wissen Gäste genau, was man tun und wie man vorgehen müsste, um sinnvoller abzubauen und optimaler zu nutzen. Die Begehrlichkeiten, an denen halb Europa sich wärmt, sind nicht zu überlesen und auch nicht das zwischen Trauer und Melancholie schwankende Gefühl darüber, was aus den ehrgeizigen Wissenschaftsprojekten von Akademgorodok oder Nowosibirsk geworden ist. Tatsächlich liegt ein riesiges Potential noch immer brach, dümpelt ohne ausreichende Mittel vor sich hin und ist von den großen Zielen, die sich die Wissenschaftler stellten, meilenweit entfernt. Forschungsmittel sind überall auf der Welt ein rares Gut. Die Russen sind gerade dabei, das Image des wohlfeilen Rohstofflieferanten, das sie zwischenzeitlich angenommen hatten, wieder abzuschütteln. Ein Heer hochqualifizierter Wissenschaftler wartet darauf, selbst zu entdecken, wie die Schätze Sibiriens verwertet werden können. "Gürkchen" finden, wie Gorki das nannte. Kleine Delikatessen, die die Russen so lieben - und nicht nur sie. Kostbarkeiten, auch im übertragenen Sinn. Dabei sind die Zeiten, in denen sibirische Großstädte die Potentiale russischen Geistes in riesigen Wissenschaftskonglomeraten bündelten, lange vorbei. Geblieben sind Menschen mit exzellenter Ausbildung, deren Ideen an mangelnder materieller Basis zugrunde zu gehen drohen, wie Helmut Höge beschreibt.
Wahrscheinlich ist es vermessen, einen Kontinent beschreiben zu wollen, dessen Ausmaße jedem Mitteleuropäer den Angstschweiß auf die Stirn treiben müsste. Wahrscheinlich ist es vermessen, Völker kennen zu wollen, deren einer Teil noch immer nomadisch lebt, deren anderer Raketen baut und erfolgreich zum Mond fliegt. Sibirien, das ist das Fazit der Lektüre, ist eben alles zusammen: Unbegrenzte Möglichkeiten, Reichtümer - Verbannung, Kälte, Not und das Gegenteil.
Permafrost - so heißt der Band von Oivind Hanes, der den Kontinent auf der Suche nach dem eigenen Vater erlebt: Industrien, die sich mit ihren Abprodukten in die Tundra fressen und riesige unberührte Landstriche. Menschen, die in Wäldern leben und Städter, die zeitweilig in ihnen verschwinden, um bei einer Art Wurzelsuche Erholung in den Sitten und Gebräuchen der Urväter zu finden. Ihre Kultur fasst das ganz besondere Verhältnis zur Natur in Bilder.
Bei eigenen Besuchen in Jakutsk gehörte zu den stärksten Eindrücken, die Vorstellungen des National- Theaters zu erleben. Die Stücke erzählen vom Leben in der Taiga, von den Spannungen in den Familien, von den Göttern des Waldes und den Verführungen der Zivilisation. Die Holzhäuser der ersten russischen Siedler wurden zu Sowjetzeiten vom Betonkomfort auf Stelzen, die den Unwägbarkeiten des ewigen Frostes ein Schnippchen schlagen sollten, fast erdrückt. Nun erleben sie eine Renaissance. Und auch die Gärtchen fehlen nicht. Von einigen der traditionsbewussten Jakuten argwöhnisch beäugt - "die laugen den Boden aus", sagen sie, "er taut nur wenige Zentimeter tief auf und die importierten Pflanzen bringen den natürlichen Wasserhaushalt durcheinander". Aber ohnehin gedeihen nur Pflanzen, die ihren Wachstumszyklus beschleunigen können. Vor Ende Mai kommt nichts in die Erde und im September ist es schon wieder frostig kalt. Was wächst, sind zum Beispiel Erdbeeren, kleiner und schmackhafter als unsere. Und Gürkchen? Vielleicht?
Die Geschichten, die Sibirier erzählen, sind von eigenartiger Schwere, bodenständig und schön. Sie berichten von ihrem Leben, aber in fast gleicher Weise von Biene, Baum und Bär. Von hundertjährigen Fichten, die den Blick magisch nach oben ziehen, Tempel und Orientierung zugleich, derer man sich ehrfürchtig bedient. In diesen Geschichten gibt es noch keine Wegwerfprobleme. Was der Sibirier in seinem Leben braucht, beschreibt Tatjana Kuschtewskaja in Meine sibirische Flickendecke. Hosen, Mützen, Kleider, Pelze - all diese ausrangierten Kleidungsstücke erzählen in diesem Band ihre Geschichte, gerade weil sie ihre alte Bestimmung verloren haben. Sie werden traditionsgemäß auf eine eigene, ganz sichtbare Weise bewahrt. Zusammengenäht als Decke, das ganze Leben. Die Jacke vom Großvater, der Schal von Annä, das Käppchen der Tochter..., sie reihen sich aneinander, lassen weinen und lachen, erinnern an Begebenheiten, bewahren Leben. Liebenswert und heiter, hintergründig und Furcht einflößend kommen sie daher: "Der Schamane unterbricht sein Murmeln und fragt mich mit strengem Blick: Was hast du gesehen? - Eine Tote.- Hast du sie erkannt? - Ja - Wer war sie? - Ich selbst. - Ich beginne am ganzen Leib zu zittern."
Manfred Cybalski: Ab nach Sibirien - Bericht einer Reise in die Gegenwart. Centaurus, Herbolzheim 2004, 239 S., 12,95 EUR
Oivind Hanes: Permafrost. Aus dem Norwegischen übersetzt von Hinrich Schmidt-Henkel, Kiepenheuer Witsch, Köln 2001, 176 S., 17,90 EUR
Helmut Höge: Neurosibirsk. Peter Engstler, Ostheim/ Rhön 2004, 216 S., 18 EUR
Tatjana Kuschtewskaja: Transsibirische Eisenbahn - Geschichte und Geschichten. Wostok-Reportagen, Berlin 2002, 196 S., 15,90 EUR
Tatjana Kuschtewskaja: Meine sibirische Flickendecke - Dokumentarischer Roman. Aus dem Russischen von Ilse Tschörtner, die Gedichte wurden übertragen von Alexander Nitzberg, Grupello, Düsseldorf 2005, 204 S., 19,80 EUR
Ulla-Lena Lundberg: Sibirien - Selbstporträt mit Flügeln. Aus dem Schwedischen übersetzt von Karl-Ludwig Wetzig, Frederking und Thaler, München 2006, 200 S., 11 EUR
Stefan Scholl: Aus dem macht ihr keinen Menschen mehr - mit deutschen Crashkids in Sibirien. Hoffmann und Campe, Hamburg 2006, 272 S., 19,95 EUR
Colin Thubron: Sibirien: Schlafende Erde - Erwachendes Land. Aus dem Englischen übersetzt von Hans-Ulrich Möhring, Klett-Cotta, Stuttgart 2001, 346 S., 22,50 EUR
Gudrun Ziegler: Der achte Kontinent - Die Eroberung Sibiriens. Ullstein-Taschenbuch, Berlin 2006, 304 S., 8,95 EUR
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