Es war eine kleine Meldung in der Presse. Toter auf einer Parkbank im Bezirk Prenzlauer Berg gefunden. Die Polizei geht von Selbstmord aus, Fremdverschulden ausgeschlossen. Dann sickerte durch, wer dieser Tote war: der Bruder des Schriftstellers Hans Joachim Schädlich. Ein Mann, der als besonders kultiviert galt, immer interessant zu plaudern verstand, ein Schöngeist, der Tweed-Jacketts liebte, Pfeife rauchte und sich die Freiräume nahm, die er zum Leben brauchte. Ein Frauenheld, „ein Gentleman-IM“ wie es in einem Artikel nach diesem öffentlichen Tod hieß, eine James-Bond-Kopie, allerdings im Mini-Format.
Einer, der offenbar auch bewundert wurde, der dem Bild von den im Doppelpack patroullierenden piefigen Lederjackenspitzeln so eklatant widersprach, dass er das Vertrauen der um den Bruder gescharten Schriftsteller aus Ost und West besaß. Verwundern musste der Zeitpunkt, denn es war längst bekannt, dass eben dieser Karlheinz Schädlich im Auftrag der Staatssicherheit seinen Bruder, dessen Familie und deren Freunde bespitzelt hatte.
„Er hat unser Vertrauen gestohlen … Der Onkel war ein Dieb“ setzt Susanne Schädlich in ihrem Buch Immer wieder Dezember – Der Westen, die Stasi, der Onkel und ich dagegen. Sie hat die Geschichte ihrer Familie aufgeschrieben – aus einer sehr privaten, nicht nur auf den Osten fixierten Perspektive.
Die betroffenen Kinder waren ohne Mitspracherecht, zugehörig, aber unmündig. Sie mussten bei der Ausreise ihre vertraute Umgebung verlassen, vermissten die Freunde, waren einer neuen Welt ausgesetzt, die sie nicht verstanden, trafen auf Mitschüler, mit denen sie nicht korrespondieren konnten, deren Lieder sie nicht kannten. Die Familie kam einfach nicht an, der Vater fasste so wenig Fuß wie die Kinder, trotz der Unterstützung durch Freunde. Die Folge, immer neue Wohnungen, neue Orte, neue Schulen, eine Krankheit des Vaters und schließlich die Trennung der Eltern. Die größere der Töchter, Susanne, suchte sich einen ruhenden Pol im scheinbar immer verlässlichen Onkel, der geblieben war, wo er war, im Berliner Osten.
Sie ist diesem Onkel ausgeliefert, seiner lockeren Art, seinen kleinen Kunststücken, den amüsanten Geschichten. Ein Onkel, der scheinbar immer tut, worum sie bittet. Dass diese bedingungslose Liebe in tiefer Enttäuschung endet, lässt sich nachvollziehen, wenn sie sich – mehr als zwanzig Jahre nach der Ausreise, 1990, in einer Unzahl von Stasi-Protokollen wieder findet.
Mit ihrem naiven Zutrauen, ihren Vorstellungen, dass aus beiden Hälften des Landes das Beste zu haben sein muss. Als Susanne so selbst bei einer Dienststelle der Stasi landet, kommt Misstrauen auf. Nicht gegen den Onkel, wohl aber gegen die DDR. Verwirrung, Orientierungsprobleme, Abschottung sind die Folgen und schließlich der Entschluss, durch Außensicht den Blick auf das zerrissene Land frei zu kriegen. Amerika scheint ihr der richtige Ort dafür.
Dort erfährt sie vom Fall der Berliner Mauer, dem Sturm auf die Stasizentrale, von den ersten Enthüllungen und dem 2. Leben des Onkels. Seiner Rolle bei den Entscheidungen der Eltern und in ihrem eigenen Leben.
Sie unternimmt nicht den Versuch, aus diesem Stoff einen Roman zu machen, sie geht auf Spurensuche. In den Archiven der Staatssicherheit, in den Briefablagen der Eltern und Großeltern, in den Hinterlassenschaften des Onkels. Sie findet, anders als der dramatische Tod zu signalisieren scheint, keine zerrissene Person, geschoben, erpresst und schließlich zum Verrat gezwungen, sondern einen charmanten, eitlen, überzeugten Täter, der sich selbst in der Nachfolge der großen Spione sieht, einen überzeugten „Kämpfer an der unsichtbaren Front“, wie es so schön hieß, einen der sich freiwillig zur Verfügung stellte.
Der nach Meinung seiner Nichte Befriedigung aus dem bestens erledigten Auftrag der Staatssicherheit „Zerstörung der Bruder-Familie und des brüderlichen Umfelds“ zog. Einen, der sich noch in seinen hinterlassenen Bemerkungen als geborenen Verräter bezeichnet. Sie erklärt allerdings nicht, warum nach 1984, als die Familie des Schriftstellers für die Stasi uninteressant geworden ist, auch auf die Berichte des Bruders verzichtet wird. Seine Beziehungen zu oppositionellen Schriftstellern bestanden weiter, er wurde von westdeutschen Autoren empfangen, niemand hegte bis dahin Misstrauen gegen ihn.
Schädlich bemüht sich um einen sachlichen Ton, befragt Autoren, die Ende der siebziger, Anfang der achtziger Jahre zum Kreis um Rainer und Sarah Kirsch, Hans Joachim Schädlich, Karl Mickel, Manfred Krug, Jurek Becker, Elke Erp, Adolf Endler, Kurt Bartsch oder Sybille Hentschke gehörten, zitiert aus Notizen, rekonstruiert die Themen der meist in Privatwohnungen abgehaltenen Lesungen, fragt nach den Debatten um literarische oder politische Probleme, sucht die daran beteiligten westlichen Autoren auf: Günter Grass, Hans Christoph Buch, Nicolas Born.
Die entstandene Chronik macht noch einmal den Aderlass kritischen Geistes und begabter Autoren aus der DDR deutlich, die – häufig genug – mit der Ausreise auch ihr Thema, ihr Publikum, ihre Wirkungsmöglichkeiten einbüßten und daran zerbrachen. Die Unterschiede in der Sozialisation der nachfolgenden Generation, die die Kinder der Ausgereisten oder Ausgebürgerten durchlebten, haben ihre Spuren bis heute hinterlassen.
Sie beweist nachdrücklich: Diejenigen, die angeblich selbstlose Kämpfer für eine sozialistische Republik waren, gehörten zu ihren eifrigsten Totengräbern. Ständiges Misstrauen gegen die eigene Bevölkerung behindert Kreativität, Bürger wie unmündige Kinder zu behandeln, unterhöhlt einen Staat, dessen einzige Überlebenschance seine Attraktivität gewesen wäre. Tonnen beschriebenen Papiers taugen nicht als Fundamente eines Traums vom befreiten Menschen, sie regen aber dazu an, ständig neue Möglichkeiten zu finden, den Überwachern einfallsreich zu entkommen. Zur Not mit der Flucht eines ganzen Volkes unter das Dach eines anderen Systems.
Immer wieder Dezember. Der Westen, die Stasi, der Onkel und ichSusanne Schädlich, Droemer-Knaur, München 2009, 240 S., 16,95
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