Im Frieden einbuddeln

Versagen Helga Schütz hat mit "Knietief im Paradies" einen Roman über das Ende des Krieges und einen Anfang mit Blumen geschrieben

An Dresden, so wußten wir alle, da geht der Krieg in einem gehörigen Bogen vorbei". In Dresden konnte vorkommen, was in den späten Jahren des Zweiten Weltkriegs sonst kaum noch vorkam, man ließ ein Kind in der Wohnung und war sich sicher, es nach Stunden der Abwesenheit wieder gesund vorzufinden. Raphaela Reich, genannt Eli, ist so ein Kind. Die Mutter will unbedingt die guten Betten der Eltern aus dem Schlesischen holen, Opa wird mit der Aufsicht beauftragt und stellt dem Kind sorgfältig das Abendessen bereit, bevor er zur Nachtschicht geht. Auf das Haus fallen an jenem Abend im Februar 1945 mehrere Sprengbomben, "Volltreffer, und bündelweise sind Stabbrandbomben reingefallen". Es dauert Tage, bis der Großvater an die Stelle vordringen kann, an der das Haus stand. Der Trümmerberg glühte noch. Der Krieg hatte an einem Tag nachgeholt, was er in all den Jahren vorher in anderen Ländern und anderen Städten angerichtet hatte. Und für diesen Schlag seine Bombenkraft gebündelt.

Dass die Alliierten den Krieg so zu ihren Gunsten entscheiden mussten, gehört heute ins Reich der Legende. Es ändert nichts an der Tatsache, dass ein von Deutschen inszenierter Ausrottungsfeldzug gegen andere Völker, vor allem gegen Menschen jüdischen Glaubens auf die zurückgeschlagen hatte, die ihn begannen. Wer von Herrenrasse und Untermenschen faselt, um unter Beifall zu morden, kann von den Verteidigern nicht vornehme Zurückhaltung erwarten. Es gibt keinen Krieg, der die Opfer in schuldig und unschuldig teilt, der Menschen und Menschenwürde verschont. Auch heute nicht, wo man angeblich die Ziele genau trifft. Jeder kennt, trotz sorgfältiger "Freigabe"politik, die Bilder von Toten, die weder Waffen, noch andere Kriegsgeräte führten, also unschuldig waren, zuletzt aus dem Irak. Sensoren versagen vor Kind, Frau und Mann, sie treffen vielleicht das angepeilte Objekt und streuen darüber hinaus auf Wohnhäuser, Schulen, Krankenhäuser. Das Wort "Kollateralschaden" nimmt nichts von der Zerstörungskraft der Minen, Bomben, Geschosse.

Knietief im Paradies - das Buch der Berliner Schriftstellerin Helga Schütz ist von dem in Mode gekommenen "Opferdiskurs", der das individuelle Leid der Deutschen neu bewerten und von der Schuld der Nation abkoppeln will, weit entfernt. Für sie wäre das ungerechtfertigter Tribut an ein Selbstverständnis, das Unschuld behauptet, weil man tatsächlich nicht beteiligt war. Es gibt ihn aber, den Unterschied zwischen Opfer und Opfer. Die einen sind Teil der Angreifer und kommen zu Schaden, die anderen wurden überfallen, beraubt, ihre Angehörigen getötet und sind gezwungen, sich zu wehren. Bei allem individuellen Leid darf Selbstmitleid nicht über die Geschichtserkenntnis triumphieren. Sonst wird man Rädchen einer Ideologie, die den, der in Notwehr handelt, zum Täter erklärt.

Knietief im Paradies beschreibt ein Opfer. Dass Eli überlebt, ist ein Wunder. Das Kind war in der Bombennacht aus dem Haus gelaufen, um jene Silberstreifen zu fangen, die alliierte Flugzeuge irritieren sollten und deshalb zu Tausenden durch die Luft schwirrten. Man konnte so schön damit basteln. Und hatte sich so weit von ihrem Luftschutzkeller entfernt, dass es dem Feuer entkam. Eli weiß, sie ist unsichtbar, nicht fassbar, ein Schatten. So muss sie das Leben annehmen, dann ist es paradiesisch. Natürlich ist sie verpflichtet, von nun an auf all die anderen zu achten. Verantwortung zu übernehmen. Für Frieden zu sorgen. Im Kleinen, erst einmal. Sie muss der vermissten Mutter berichten, dem gefallenen Vater. Sie muss Opa beschützen, wie er sie beschützt hat, nachdem er - ungläubig - in einem Kinderauffanglager die Enkelin fand. Dann kann sie das Paradies behüten.

Helga Schütz versucht sich an den Februar ´45 und die Zeit danach möglichst genau zu erinnern. Sie wertet nicht mit dem Wissen aus den Jahrzehnten danach. Die Unschuld ihrer Hauptfigur ist mit dem Leben wunderbar honoriert, findet sie. "Zu Ende denken, das geht nicht." Für Traumata ist keine Zeit, es geht um eine Scheibe Brot jeden Tag, eine gestohlene Mohrrübe, ein bisschen Milch. Eli erobert die Ruinenfelder, will finden, wo sie lebte und, wie alle glaubten, starb. Sie findet ein nachwachsendes Bäumchen, Samen, der das Inferno in der Erde überstand. Da war ihr Haus. Sie sah die Blätter des Mutterbaums jeden Morgen am Fenster. Das Bäumchen ist ihr verwandt, nur ein Samen überlebte und nur sie.

Sie weiß noch nicht, was Schuld ist, Vorgeschichte des Kriegs, Mitwisserschaft der Bevölkerung, Scham spielen deshalb keine Rolle. Aber in den acht Jahren, die das Buch umfasst, wird sie es lernen. Sie geht über den Münchner Platz, in das Gericht "die Stelle, wo es war, das Fallbeil oder der Galgen. Hier ist der Eingang zu den Zellen ... der Pförtner hat mir einen Aufgang gezeigt."

Wer die Bücher der Autorin kennt, findet vertraute Schauplätze, die Glashäuser der Dresdner Gärtnerei spielen auch in Grenze zum gestrigen Tag (Freitag 9/2002) eine Rolle. Sie nutzt den erlernten Beruf perfekt als Metapher. Leben ist Farbe. Dem Grau der Ruinen, der Räume im Gericht, die später zur Uni gehören, begegnet sie mit Blumen und Grün. Mit großen Worten kann sie nichts anfangen. Mit einem Wort wie Frieden schon. Darin muss man sich einbuddeln, knietief. Pflanzen, pflegen, gießen. Blumen wie Menschen. Das Leid nicht abkoppeln, sondern einbeziehen in die eigene Verantwortung. Unsichtbar sein und seine Hand über die Schwachen halten. Hegen und Pflegen, damit lässt sich selbst Stalinismus und dogmatische Rechthaberei darstellen Und die Liebe natürlich, die erste, zarte, selbstlose, die nur geben will, Essen wie Erspartes, auch wenn sie auf zwei Männer fällt.

Helga Schütz erzählt in gewohnt perfekter Art, kein Wort zu viel. In diesem Buch gibt es nichts Belehrendes, keine Debatten. Was man anfängt mit Wissen und Erfahrungen, darauf kommt es ihr an. Deshalb die Lebensstationen und Situationen. Knietief im Paradies ist zu bescheiden, um den Erinnerungsstücken der offiziellen Kriegsende-Berichterstattung und den diversen, sehr unterschiedlichen Porträts von Nazigrößen etwas entgegen zu setzen. Dafür hat es mit dem Leben jener Millionen zu tun, die den faschistischen Unrat wegräumen mussten, Steine klopften, Leichen einsammelten, die Köpfe reinigten, dem deutschen Größenwahn wenigstens partiell Demut entgegensetzten. Das Recht auf eigenes Glück ist an die Annahme einer latenten Schuld gebunden. An das Verständnis von fremdem Leid als eigenem. "Ich mache mit, als wir uns zu einem Orden zusammenschließen. ... zu Ehren von Doktor Doktor rer. nat. Heinrich Nüßlein jeden Tag drei Pflanzen in unser Gedächtnis aufzunehmen. ... In einem Garten ging das Paradies verloren. In einem Garten wird es wiedergefunden. Sagt Pascal, sagt der Professor."

Helga Schütz: Knietief im Paradies, Roman. Aufbau, Berlin, 175 S., 17,90 EUR


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