Bleib denen das Monster nicht schuldig, die dich zu ihm ernannten ...", lässt Kant seinen Ich-Erzähler Niebuhr trotzig sagen. So, als könne man beliebig zwischen Monster und Engel wählen. Man kann nicht und Kant kann auch nicht. Der aus dem Aufenthalt bekannte Niebuhr tritt im Gegenteil an, seine Lebensbeichte abzulegen. Zu erklären, wie er wurde, was er ist, warum seine Sicht der Welt fester gefügt ist als die anderer, warum er in dem neuen Deutschland so schwer ankommt und statt dessen "bei der Sache blieb". Er tut es ausladend, mit vielen ineinander geschachtelten Geschichten, garniert mit Privatem, erfundenem und realem, das er nicht fortlassen wollte, obwohl - wie er schreibt -, der Bericht "vorwiegend von Vereisung" handelt.
Er bleibt dem Leser das "Monster" schuldig. Der Mensch ist nämlich weder "gut noch roh", wie Brecht sagt, die Umstände machen aus ihm Niebuhr, den Soldaten, der nicht anders kann, als aus dem antifaschistischen Geist seiner Bewacher Lebenskraft zu ziehen. Er übernimmt "die Sache" wie eine gefüllte antike Amphore, deren Inhalt ungeprüft getrunken werden muss. Niemand konnte sicher vorhersagen, was am Ende drin gewesen sein würde, aber jeder tat so, als könne er noch durch den schwärzesten Schlamm bis auf den Grund sehen. Niebuhr eingeschlossen. Das hat nicht nur mit ihm oder mit einer Veranlagung zu tun. Niebuhr will die Chance, die er nie hatte, sich für oder gegen etwas zu entscheiden, wahrnehmen. Niebuhr will nicht nur das Generationenfutter gewesen sein, das am Kriegsende irgendwo herumlag. Er will nicht wieder in die Situation kommen, "beteiligt" gewesen zu sein. Im Warschauer Ghetto und um Warschau herum gab es kein noch so kleines Stückchen Land, das ohne Wunden war. Die meisten seines Jahrgangs hatten mit dem Leben bezahlt. Der Rest - Niebuhr war einer vom Rest - fand sich dort wieder, wo ihn die Maschinerie ausgespuckt hatte. Wie aus Kants Roman Aufenthalt bekannt, in diesem Falle in einem polnischen Lager. Bereit, jede Sühne anzunehmen. Ohne Forderungen. Staunend über das Wunder, überlebt zu haben. "Ideengefäß" für Antifaschisten, für Stalin. Und er beharrt darauf, dass die Füllung des "Ideengefäßes" in einer privaten Audienz mit dem Diktator stattgefunden habe. Mit Hilfe des eigenartigen Klangs einer Okarina übrigens.
Den Rahmen von Kants neuem, gleichnamigen Buch liefert ein Eisfest auf der Alster. Es gehörte zu den stärksten Eindrücken der Kindheit und zieht ihn magisch an, als er nach der Einheit im Autoradio davon hört. So als könne man ein Leben wieder einfangen, als könnte man mit Anfang und Endpunkt Zäsuren setzen, die der Zeit dazwischen Kontur geben. In seinem Falle als Eiszeit.
Trotz dieses Auftakts dominieren seine polnischen Jahre die ersten 150 Seiten. Er kann darauf nicht verzichten, weil ihm die Gesamtschau dieses Lebens wichtig ist, Ursache und Wirkung sollen nicht verwechselt werden können. Aber er hätte es dem Leser leichter gemacht, wenn die Episoden verknappt, ein wenig stringenter erzählt worden wären. Denn die Übergänge und Verquickungen zwischen Lager, "Schweizerdegen" bei Moeller Moeller, Chefredakteur der Loseblattzeitschrift, die sinnigerweise auch Okarina (Organ für Kommunikation in Angelegenheiten Regionaler, Internationaler und Nationaler Art) heißt, erschließen sich ohnehin. Andererseits schwappt Weltpolitik im Schweinsgalopp in die Zeilen, angezapfte hoch wichtige Telefonleitungen, Tunnelbau, Kubakrise, Vietnamkrieg, Rudi Dutschke Chruschtschow, die ersten Raketenstarts. Es ist, als sei dem Autor die Zeit davon gelaufen, als hätte er ein Lebenswerk auf den Weg gebracht und dann in ein paar Wochen unter widrigen Umständen beenden müssen. Es gibt Passagen, da kommt zusammen, was bei Kant zusammen gehört: brillante Sprache, virtuos gehandhabte Bildmontage und klare Erzählposition, es gibt andere, in denen der überbordende Erzähleifer Klarheit verhindert, Sprachspiele sich verselbständigen, der Leser vor- oder zurückblättern muss, um den Zusammenhang zu finden. Womit nicht die etwas mystischen Erinnerungen an Marilyn Monroe gemeint sind. Wichtige Passagen geraten so schnell - etwa die Auseinandersetzung mit dem, was er "Pidgin-Leninismus", "Pidgin-Geschichte" nennt - in den Hintergrund. Darauf aber wartet der Leser. Niebuhr ist eben nicht nur eine literarische Figur, er ist Schlüssel zum Verständnis einer Generation, deren Ausgangsposition um vieles anders als die jeder nachfolgenden war. Einer Generation, die "total besetzt" war von sich selbst, befreit durch Krieg und "Buchstaben", die einen Sozialismus lehrte, den sie nicht kannte und für die "von den späteren Bedienhinweisen noch keiner vorlag ..." heißt es mit ebenso viel Sarkasmus wie Ironie.
Was gibt Kant von Kant preis, was blättert er auf? Privates. Die vielfältigen Beziehungen zu Frauen sind nur ein Teil davon. Er sieht seine Figur und sich mit so etwas wie verliebter Distanz als Subjekt und Objekt einer für ihn unbezweifelbar notwendigen Entwicklung. Nichts konnte der Schuld des Faschismus entgegen gestellt werden als gestalteter Antifaschismus. Wie gestaltet wurde, ist Anlass ironischer Anmerkung, nicht der Nachfrage. Alles, was Niebuhr/Kant sieht und tut, ordnet sich in dieser Weise. Soldat des letzten Aufgebots gewesen zu sein (wenn auch nur ganz gewöhnlicher) schreibt die Perspektive ein für allemal fest. Niebuhr/Kant - das ist die Erfahrung seiner Lagerzeit, seines Antifa-Engagements und seiner SED-Mitgliedschaft - "hatte zu antworten. Genau an diesem Punkt, dieser Rille dieser Platte hat mein Leben immer wieder angehalten: Bei der lustvollen Erkundigung, wo wir stehen geblieben seien. Besagen wollte sie, daß man fortfahren solle. Nicht in eine beliebige Richtung, sondern dorthin, wo die Wahrheit liege. Deren Gehalt nicht Sache meines Gutdünkens sei. Sondern vielmehr ihres Bestimmens." Denn die "Ordnung sah Ordnung vor und keine Widerrede". Wer nicht bestimmte über den wurde bestimmt. Also bestimmt er, so gut man ihn lässt, und natürlich im Dienst der Sache. Was er weiß und sieht: Mund halten, zum Munde reden, mundgerechte Wahrheit, Wachen, Wachheit, Überwachtheit, alles fällt in das Prisma "unsere Sache" und kommt geschönt und also verharmlost zurück.
Kant sieht durchaus Defekte im System - das übrigens lässt sich auch in allen Büchern nachweisen, die zu DDR-Zeiten millionenfach gelesen wurden. Verbote erschienen ihm sinnlos, Einschränkungen unnötig, Befehle engten Ideen ein. Allemal aber gibt ihm und vielen anderen "die Sache" vor, wie weit die Haken geschlagen werden dürfen. Dieser ominös unbestimmt schillernde Begriff, der überdeckt, dass niemand ihr mehr schadete, als die, die ihn ständig im Munde führen. "Der Gegner war in uns niedergelassen, wie der Teufel im gläubigen Christen", sagt er heute. Und "Ach, Macht: Über dem Anspruch, Arbeiter-und-Bauern-Macht zu sein, verloren wir so viele Arbeiter und Bauern, daß nur noch die Macht blieb." Der klare Blick auf die Zeit und ihre Notwendigkeiten hätte Offenheit gebraucht, weite Sicht. Aus einem Schneckenhaus ist er nicht möglich. Das schützt, jedenfalls die, die es gebaut haben, unter bestimmten Bedingungen sogar vierzig Jahre.
Ist Zurück ins Schneckenhaus eine Perspektive? So ungemütlich es geworden sein mag in diesem neuen Deutschland, vor allem für die, die gleich Niebuhr/Kant nicht einfach in ein anderes Leben springen und Asche aufs Haupt streuen konnten, dieser Weg enthält eine gehörige Portion Resignation. Kant findet dafür am Schluss seines Buches ein bedrückend einfaches Bild. Weil die Heizkosten in seinem für die Familie erworbenem Bauernhaus zu hoch werden, stellt der Alleingelassene nicht die Heizung um, sondern baut sich das wärmende Schneckenhaus hinein. Denn der Versuch, sich auf der zugefrorenen Alster der alten, neuen Heimatstadt zu versichern, ist im Chaos untergegangen.
Hermann Kant: Okarina. Roman. Aufbau-Verlag, Berlin 2002, 462 S., 22,50 EUR
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