Ein altes Bild, eine Geschichte. Manchmal holt uns Vergangenes ein. Wir denken darüber nach, erwägen die Umstände, diskutieren vielleicht mit Eltern oder Großeltern und haken das Ganze ab. Es gibt keine Wiederholung. Wir glauben fest, wir würden uns niemals verhalten wie unsere Vorfahren. Wir haben unsere eigene Meinung, wir sind nicht manipulierbar.
Je jünger wir sind, desto fester glauben wir daran. Jedes unserer Urteile über die Älteren und Altvorderen basiert darauf. Jeder Artikel in einer Zeitung, jeder Kommentar. Dabei klebt die Geschichte an Jedermanns, Jederfraus Füßen. Jeder für sich würgt am ungenießbaren Brei aus verdauten oder unverdauten Halbwahrheiten.
Wenn uns das bewusst wird, spucken wir angeekelt aus und glauben uns befreit. Offen, strahlend, nassforsch stürzen wir uns wieder auf das, was war und das, was ist und das, was auf uns zukommt. Irgendwo in uns aber schwelt ein kleiner Rest, der nagt: Unsicherheit genannt, manchmal vielleicht sogar Gewissen.
Dorothea Dieckmann, 1957 in Freiburg geboren, Essayistin, Literaturkritikerin und profilierte Autorin, hat aus diesem Rest einen eindrucksvollen Roman mit dem unspektakulären Titel Termini gemacht. Sie erzählt zunächst ganz unspektakulär vom deutschen Journalisten Ansgar Weber, der für seine Zeitung zum Priebke-Prozess nach Rom geschickt wird. Sein Auftrag: Prozessbeobachtung, Aufarbeitung der Geschichte des faschistischen Deutschlands, Urteilskommentar, nachdem sein Blatt die Fakten bereits veröffentlicht hatte.
Gähn! Darüber weiß doch eigentlich jeder anscheinend alles. Was geht das die Generation der Heutigen noch an? Bevor der Leser die ersten Zeilen des Buchs zu Gesicht bekommt steht allerdings ein Zitat von Friedrich Hebbel: „Zu irgendeiner Zeit. Tragödie der Zukunft.“
Muss sich tatsächlich jeder Einzelne mit der Geschichte seines Landes auseinandersetzen? Ja, denn nichts ist auszuschließen, auch nicht die Wiederholung. Das Bekannte im Neuen sehen, das schafft ein guter Journalist im besten Falle. So sieht sich Ansgar Weber. Aber im Fall Priebke? Da gibt es nichts mehr aufzudecken. Unsere hektische Zeit braucht den Kick, denkt er.
Ein Gerücht besagt, eine ehemals in Deutschland sehr bekannte Autorin lebe noch und sie lebe in Rom. Während des Faschismus aus Deutschland verschwunden, dann tot gesagt. Neue Bücher erscheinen nicht mehr. Die Tochter eines Kollegen, die ihn in Rom unter ihre Fittiche nimmt, führt ihn zu Lydia. Diese berühmte Frau quicklebendig wieder zu entdecken, das scheint ihm zeitgemäß. Er bekommt sein Interview, sucht ihre Spuren in Rom. Erst recht, als sie das gewährte Gespräch mit Hinweis auf nötige Ergänzungen und Korrekturen plötzlich verschwinden lässt.
Geheimnisvolle Lydia
Dieckmann erzählt in Einzelepisoden. Lange weiß der Leser nicht, was es mit Lydia auf sich hat und so ganz entschlüsselt er nie, warum sie unbedingt verborgen bleiben will. Stattdessen gibt es geheimnisvolle Zeichen, die alle in Richtung Geschichte deuten.
Rom hat viele Ebenen, wie andere Städte auch, aber noch ein Unmenge mehr. Auf der Suche nach seinem Interview wird Weber immer tiefer in den römischen Untergrund gelockt. Was wie eine etwas interessantere Stadtführung beginnt, die bei einer solchen Dienstreise einfach mit anfällt, endet in den Adreatinischen Höhlen, in die die Nazis 335 Menschen trieben, um sie zu töten. Eine der Ebenen unter der Stadt, es gibt noch tiefer liegende. Je hektischer Weber den Ausgang sucht, desto tiefer werden die Abgründe.
Das ebenso ge-, wie entspannte Touristenverhältnis zwischen Italienern und Deutschen spielt plötzlich eine Rolle und die Tatsache, dass es trügt. Es schwelen viel mehr Dinge als nur die Vorurteile. Dieses Wabernde, niemals Ausgesprochene will die Autorin bloß legen.
Die Emigranten aus Deutschland wissen davon, Lydia und der alte Walter, der als Wahrsager und Homosexueller Deutschland verlassen musste. Aber in welche Welt gehören sie? Immer wieder fallen wir auf einen Trick herein, den Walter so benennt: „Es war ein altes, längst in die Träume verbanntes Gefühl: …Was ein Hellseher sieht, war immer schon eingetroffen.“ Visionäre sind Menschenkenner.
Dieckmann braucht keinen Mephisto, um die seelische Zerrissenheit der Jetztmenschen einzufangen. Die Kluft zwischen Wollen und Können ist breit genug, um Alpträume und apokalyptische Zustände zu produzieren, die an ihrer Hauptfigur, eben jenem Ansgar Weber zerren und ihn in den Abgründen gefangen halten. Der Stadt aber auch der menschlichen Seele.
Der Alptraum ist zugleich real und surreal, beschreibt die Gefühlslagen derer, die bis heute unter den Folgen des Faschismus leiden, ebenso adäquat wie die der anscheinend heiteren Draufgänger a la Weber. Beinahe jede Figur des Romans spiegelt unsere oberflächlich befriedete Welt, die an ihren Widersprüchen zu platzen droht. Nicht der Teufel stößt die Seele in die Apokalypse, Menschen sind es. Jeder für sich und jeder für den Anderen.
Dieckmann setzt diese Erkenntnis gekonnt in Literatur um. In dem fast rauschhaften Kapitel „Die Katakomben“ analysiert sie ihre Hauptfigur. „Wer war Ansgar Weber? Einer, der sich immer im Dunkeln bewegt hatte. Nichts sehen, nichts hören, nichts sagen, während ringsum die Tatsachen zum Himmel schrien …“. Dabei fühlt er sich selbstbestimmt. Auf der Höhe aktuellster Erkenntnis.
Im Untergrund
Bei Dieckmann symbolisieren die Katakomben auch einen Zustand, in dem sich jeder befinden kann, wenn er nicht weiter weiß, eingeschlossen ist in sich selbst oder in die Stereotypen unserer Zeit. Es sind Orte, an denen wir stolpern und fallen und uns wieder aufraffen, unsere Wut schärfen oder die Ohnmacht fühlen. Alles, was wir tun können, ist schon einmal getan worden. Es kommt darauf an, zum richtigen Zeitpunkt zu agieren, zwischen Vergangenheit und Zukunft zu vermitteln, so viel wie möglich in die Gegenwart zu holen, um nutzbringend damit umzugehen. Nichts ist autark.
Weber, dieser Journalist auf Abwegen, ist der Vermittler zwischen den Ebenen. Zwischen der hellen und der dunklen Seite, die in jedem ist. Die Gestalt gewordene, ein wenig bizarre Mittelmäßigkeit, die in den meisten von uns steckt und doch die einzige Hoffnung auf Zukunft darstellt. Genialität ist selten.
Dieckmann erzählt mit doppeltem Boden. Gekonnt entwirft sie ein ganz normales Szenario, Journalist in fremder Stadt. ein Bericht, um daraus einen Roman über Abgründe zu machen. Sie verwendet Mittel des Phantastischen und mischt sie mit ganz realen Beobachtungen und Fakten, ohne dem Leser allzu viele Hilfen an die Hand zu geben. Sie verwendet eine Art Trichterperspektive, breit ausgelegte Eingangspassagen, die sich immer mehr verengen.
Das erzeugt einen Sog, dem man sich nach gut einem Drittel des Romans nur noch schwer entziehen kann. Wer diesen breiten Anfang nicht durchhält, die Passagen über römisches Strassenleben für eine etwas lang geratene Stadtreportage hält, verpasst einen spannenden, Geschichte und Gegenwart symbiotisch verbindenden Roman.
Dorothea Dieckmann. Roman. Klett-Cotta, Stuttgart 2009, 315 S., 21,90 Termini
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