Nur noch ein Kostenfaktor

Kommentar Suizid aus Angst vor dem Alten- und Pflegeheim

Der Abstand zwischen einem selbstbestimmten Leben und totaler Abhängigkeit ist oft nicht groß. Er verringert sich mit zunehmendem Alter so rapide, dass ein einziger unbedachter Schritt reichen kann, um von einem Zustand in den anderen wechseln zu müssen. Jugend ist - trotz einer gegenteiligen Werbung - nicht machbar und Alter kein Makel. Aber diese Erkenntnis hilft wenig, wenn die Wahrscheinlichkeit, in einem Pflegeheim als Pflegefall zu enden, in Gewissheit mündet.

Selbstmord aus Angst vor der Agonie im Altenheim - so besagt es eine gerade veröffentlichte Studie des Instituts für Rechtsmedizin der Berliner Charité - sei in nahezu allen der untersuchten 130 Fällens der durch Abschiedsbriefe noch einmal unterstrichene Grund für eine Selbsttötung gewesen. Eine erschreckendes, wenn auch kaum überraschendes Fazit.

Der Zustand vieler Heime und die nach Zeittakten limitierte Pflege - das sind die Panik auslösenden Schlussteile eines Puzzles, das mit jedem einsamen Tag ein depressiveres, freudloseres und sinnloseres Bild zeichnen. Vorangegangen sind vielfach die gespeicherten Informationen über ältere Menschen, die in würdelosen Posen zur Schau gestellt werden, deren Leben nur noch aus Verfall besteht, die sich in liebloser Weise hin und hergeschoben fühlen.

Nicht nur körperliche Last für das Pflegepersonal - ob verwandt oder fremd -, sondern auch finanzielle. Ein Leben, das in der Regel schuldenfrei verlief, soll in der Vorstellung vieler Senioren nicht mit horrenden Belastungen für Kind und Kindeskinder oder im Schatten der Sozialämter - die Betroffenen akribisch vorrechnen, was sie zu beanspruchen haben - zu Ende gehen. Solange der Verstand reicht, wird ein Gedanke reflektiert: Du bist eine geduldete Last, sobald du für gesellschaftlich verwertbare Tätigkeiten nicht mehr zur Verfügung stehst. Das bekommst du zu spüren, wenn du auf Pflege angewiesen bist.

Familien sind in einer an Kindern immer ärmeren Gesellschaft zum Luxus geworden. Und selbst wer sich diesen Luxus leistet, kann den Kindern nicht bei jedem ihrer Schritte am Rockzipfel hängen. Der Arbeitsalltag, Umzugszwänge, die allseits geforderte Flexibilität - immer von der Sorge getrieben, selbst ein Sozialfall zu werden - lockern auch die festesten Familienbande. Der auf sich selbst gestellte ältere Mensch wählt den Ausweg, den ihm die üblen Nachrichten, die ihn zum reinen Kostenfaktor stempeln, nahe legen: Sich leise davonmachen, so kostengünstig wie möglich und dabei Gesicht und Würde wahren.

Er vergisst allerdings eines: Längst sind Seniorinnen und Senioren Teil einer Wirtschaftbranche geworden - der Rohstoff für ein bislang florierendes und nach wie vor wachsendes Gewerbe, die Altenpflege. Würde Selbstmord aus den genannten Motiven zu einem massenhaften Phänomen, entzöge das einer wachsenden Zahl Jüngerer den Arbeitsplatz. Und das können die Alten auch nicht wollen.


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