Selektives Gedächtnis

Wer richtet wen? Für die bundesdeutsche Strafverfolgung ist die NS-Justiz in ihren Kernbereichen Rechtsstaat geblieben, die DDR hingegen nicht - über eine Tagung der Friedrich-Ebert-Stiftung

Es war einmal ein Professor, der nach der Wende für seine Dienstjahre in der DDR eine Rente von knapp 2.500 Mark erhielt. Später wurde seine bereits gewährte Rente noch einmal überprüft. Als der Neubescheid kam, glaubte er zunächst an einen Irrtum. Er erhielt 4.995 Mark und eine Nachzahlung von weit über 100.000. Zwar waren ihm für seine Arbeitszeit in der DDR keine anderen Ansprüche berechnet worden als bisher, aber die bis 1945 im Reichssicherheitshauptamt verbrachten Jahre schlugen mit einer solchen Summe zu Buche, dass sich seine Rente sogleich verdoppelte.

Daniela Dahn, die dieses Beispiel (kein Märchen) auf der Tagung der Friedrich-Ebert-Stiftung über "Das rechte und das linke Auge - Zur Aufarbeitung von NS-Staat und DDR" nannte, ging es selbstverständlich nicht um eine Rentendebatte, sondern um Wertvorstellungen, die sich in solchen Zahlen ausdrücken. Ob das rechte Auge schielt und nur das linke scharf guckt, ist also weit weniger entscheidend als die Bewertung dessen, was auf beiden Augen gesehen wird. Und die findet ein paar Windungen höher im Kopf statt. Vorausgesetzt, es gäbe völlig gleiche Erscheinungsbilder von Unrecht, wäre offenkundig nur das in der DDR wahrgenommene zu ahnden. "Augen zu und durch" würde statt dessen für das Unrecht zwischen 1933 und 1945 gelten. Darüber war man sich auf der Tagung - fast - einig.

Uneinigkeit herrschte über die Gründe, die zu solchen historischen Unterschieden führten. Natürlich war die Feststellung, dabei könne es sich um antikommunistische Vorbehalte handeln, nicht konsensfähig, und auch der bloße Rachegedanke wurde verworfen. Man einigte sich stattdessen auf die Formulierung, totale Neutralität eines Richters könne es nicht geben. Schließlich habe auch der als Person eine Geschichte. Und eben diese Geschichte habe einiges mit dem zweigeteilten Maß zu tun. Der in Bielefeld Öffentliches Recht und Verfassungsgeschichte lehrende Christoph Gusy - er legt Wert auf das "u" in seinem Namen - fand eine einleuchtende Formel: Verfahren gegen Nazirichter wurden deshalb nur zögernd oder gar nicht geführt, weil es sich um Angehörige der gleichen Funktionseliten handelte. Man hätte quasi über sich selbst oder die eigenen Vorfahren richten müssen. Richter der DDR wurden demgegenüber zu keiner Zeit dem eigenen Stand zugerechnet. Sie kamen - der Eliteaustausch in diesem Bereich war in der DDR fast total - aus einem Stand, der mit dem bundesdeutscher Richter nichts mehr gemein hatte. So wurden sie später wie Fremde be- und verurteilt - zweierlei Maß für zweierlei Herkunft.

Sowohl der Vertreter der gastgebenden Friedrich-Ebert-Stiftung (Axel Schmidt-Gödelitz) wie der des Mitveranstalters "Forum Justizgeschichte" (Helmut Kramer) hatten im ursprünglichen, später revidierten Einladungstext auf Fakten verwiesen: Keines der 60.000 Todesurteile von NS-Richtern wurde geahndet, dagegen 32 Richter der DDR wegen Rechtsbeugung verurteilt. Der Großteil der Richter und Staatsanwälte der DDR wurde nach 1990 entlassen, während nach 1945 in der Westzone selbst solche NS-Juristen Recht sprachen, die für mehr Todesurteile verantwortlich waren als die gesamte DDR-Justiz. So scharf formuliert die schließlich gültige und publizierte Einladung nicht mehr, sie stellt aber immerhin noch Fragen, zu denen Redner aus sehr unterschiedlichen wissenschaftlichen Zusammenhängen Material vortrugen, das diese Ungleichbehandlung bestätigte - bis hin zur unterschiedlichen personellen Ausstattung von Verfolgungsbehörden. Die Zentralstelle für NS-Verbrechen in Ludwigsburg hatte in ihrer besten Zeit fünf Mitarbeiter, die Gauck-Behörde weit über 3.000.

Auch wenn in der Anfangszeit der BRD die fast konfliktlose Übernahme der alten Eliten im Vordergrund stand, so muss doch spätestens mit der Ablösung der Alten durch die Nach-68er-Generationen als Motiv "Wir wollen es besser machen als die Vorgänger" mit einbezogen werden. Dass das so ist, so hörten die Anwesenden durchaus mit Erstaunen, sei auch den damals vom DDR-Propagandachef Albert Norden im "Nationalrat der Nationalen Front" präsentierten Braunbüchern zu verdanken. Einigen der angehenden bundesdeutschen Juristen trieben die zunächst als Agitationsmaterial verunglimpften Pamphlete im Nachhinein die Schamröte ins Gesicht, als sie die Angaben dann doch überprüften und bis in die Einzelheiten bestätigt fanden. Was zu dem Schluss führte, nie wieder eine derartige Verluderung des Rechts zuzulassen. Dass bei der Verfolgung von DDR-Unrecht oft Äpfel mit Birnen verglichen wurden, es zu einer ungerechtfertigten, durch keine wissenschaftliche Erhebung bestätigten, aber immer wieder bemühten Gleichsetzung von beiden Systemen gekommen ist, sei zu bedauern, aber auch Richter und Staatsanwälte könnten eben in 40 Jahren neue Erkenntnisse sammeln und für ihre Arbeit zum Gedeihen von Recht und Gesetz umsetzen.

Zu keiner Zeit ist der NS-Staat mit seinem massenhaften Unrecht, den Millionen Toten, den Konzentrationslagern, den Ausrottungsprogrammen für Juden und Minderheiten in der BRD "Unrechtsstaat" genannt worden. Wie es dazu kommen konnte, hat der Strafprozessrechtler Ingo Müller herausgefunden. Die bundesdeutsche Justiz sei bei ihrer Urteilspraxis davon ausgegangen, dass die NS-Justiz in ihren Kernbereichen Rechtsstaat geblieben sei, die DDR hingegen nicht. Diese Wertung sei um so erstaunlicher, meinte der holländische Ordinarius für Strafrecht an der Universität Amsterdam, Rüter, als die DDR-Justiz - abgesehen von den sogenannten Waldheim-Prozessen Anfang der fünfziger Jahre - keine Anhaltspunkte dafür liefere, dass der Kern des DDR-Rechts der Durchsetzung von Unrecht diente. Es hätte sowohl im Arbeits- wie im Sozial- und Familienrecht interessante neue Ansatzpunkte gegeben, die es Wert gewesen wären, für gesamtdeutsches Recht geprüft zu werden. Der Begriff des DDR-Unrechtsstaates sei, so nicht nur seine Meinung, ein Kampfbegriff.

Der heftige Protest von OpfervertreterInnen änderte nichts daran, dass auch die Deutschamerikanerin Inga Markovits von der Universität in Austin/Texas eine ähnliche Auffassung vertrat. Sie sprach vom "selektiven Gedächtnis" der Deutschen und den daraus abgeleiteten Standards, die dazu führten, dass heute zwar so gut wie alle DDR-Akten verfügbar seien, die der Bundesrepublik für den gleichen Zeitraum aber einer Reihe kaum zu überwindender Verschlusshürden unterlägen. Vergleiche seien deshalb schwierig. Es bliebe das grelle Licht auf die DDR und ein gütiger Dämmerschein auf alles, was die BRD und ihre politische Justiz betrifft. Aber gerade dieser Bereich verlange eine mindestens ebenso intensive Aufarbeitung, wenn es denn wirklich um eine Bewältigung der Vergangenheit geht.

Es steht außer Frage, dass die juristische Verfolgung von Unrecht auch im Nachhinein sinnvoll und vor allem reinigend für den Boden sein kann, auf dem eine andere Ordnung fußt. Wer allerdings nur in einer Ecke wischt, riskiert den Verdacht, dass nicht Reinlichkeit sein Handeln bestimmt. Und wenn es tatsächlich in langen Jahren der Demokratie zu einem Lernprozess gekommen ist, dann müssten mindestens die Fälle von NS-Justiz, die in der späten BRD nachverhandelt wurden, zu vergleichbaren Urteilen führen. Kann man davon wirklich sprechen? Selbst untergeordneten DDR-Rängen wird vorgehalten, sie hätten das Unrechtmäßige ihres Tuns erkennen und gegen Anordnungen handeln müssen. Ganz zu schweigen vom Prozess gegen das zeitweilige Politbüromitglied Herbert Häber, dem - obwohl der innerparteilichen Opposition zugerechnet und nach wenigen Wochen aus dem obersten Gremium wieder entfernt - die Schüsse an der Grenze angelastet werden, "verantwortlich wegen Unterlassens". Einem NS-Richter, beteiligt an Euthanasie, allerdings wird bescheinigt: Sein Tun sei nicht strafrechtlich relevant, denn sein Schweigen "kann nicht ohne weiteres als Zustimmung ausgelegt werden."

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