Meine Geschichte der DDR nennt Wolfgang Leonhard das neueste Buch über seine Erfahrungen mit diesem deutschen Staat. Und das ist es natürlich auch: Ein biografisch unterlegter Rückblick auf die Jahre, in denen er und viele andere auf einen sozialistischen Staat hin gearbeitet haben; eine Kindheit, in der die Trennung von der Mutter mit ihrem politischen Engagement und der kommenden Arbeitermacht begründet war; eine Jugend, die ganz auf das Ziel der sozialistischen Umgestaltung seines Landes durch eine gebildete Generation ausgerichtet wurde, in der die Ungerechtigkeiten und Verbrechen unter Stalin - die Verhaftung der Mutter, das Verschwinden vieler Bekannter, die Angst, selbst etwas Falsches zu sagen oder zu tun - ertragen wurden, weil so etwas wie eine Gerechtigkeit von unten als Perspektive vorhanden zu sein schien.
Dass Leonhard diesen Staat nicht nur in den wenigen Jahren beobachtete, in denen er als jüngstes Mitglied der "Gruppe Ulbricht" in Berlin arbeitete, sondern ein Leben lang kritisch begleitete, ergibt sich aus diesem Werdegang fast von selbst, auch wenn er die Gründung der DDR nicht mehr von innen erlebte. Im Frühjahr 1949 war er nach Jugoslawien geflüchtet. Die Erfahrungen aus diesen Jahren hatte er sechs Jahre später in seinem Buch Die Revolution entlässt ihre Kinder beschrieben. Dass das nicht auch in der DDR vertrieben wurde, konnte den Kenner derer, die dort inzwischen in den entscheidenden Machtpositionen waren, kaum überraschen. Schließlich war der Flucht eine Analyse der zu erwartenden Entwicklung der "Ostzone" voraus gegangen, die nicht gerade ermutigend ausgefallen war.
Viele Details aus dieser Zeit sind in Die Revolution entlässt ihre Kinder bereits beschrieben. Zu damaliger Zeit eine Sensation. Ein Bericht aus dem inneren Zirkel jener Funktionäre, die mit der Führung des von den sowjetischen Truppen besetzten Teils von Deutschland beauftragt waren, war so etwas wie die geöffnete Tür eines sonst immer verschlossenen Hauses. Es gab die agierenden Figuren, mit denen man es in der Auseinandersetzung zwischen Ost und West zu tun hatte, der Beobachtung preis, machte sie ein wenig berechenbarer, zeigte Denkrichtungen, enthüllte Methoden, mit denen sich diese Macht durchzusetzen gedachte und lieferte Fakten über den Stalin´schen Terror, der von den meisten, die ihn überlebt hatten, verschwiegen wurde. Um ein Wort aus dem heutigen Sprachgebrauch zu verwenden: Die Davongekommenen verbuchten die vielen Toten, Verschwundenen, Drangsalierten unter "Kollateralschäden". Und das, obwohl es die engsten Vertrauten betraf. Leonhard durchbrach dieses Kartell des Schweigens als einer der Ersten.
Sein neues Buch basiert auch auf den Erinnerungen an die Zeit im Moskauer Exil, fügt bereits Bekanntem noch einige Details hinzu, legt den Schwerpunkt allerdings auf die Entwicklung in der unmittelbaren Nachkriegszeit, seine Flucht, die Gespräche und Ereignisse nach dem Fall der Mauer 1989. Vieles ist in anderen Zusammenhängen bereits veröffentlicht, bis hin zu den Gesprächen mit seinen ehemaligen Genossen aus dem Moskauer Exil, die er nach dem Mauerfall traf.
Die Erwartungen, die einer an so ein Buch stellen kann, sind unterschiedlich. Leonhard benennt und analysiert die Zäsuren: Die Unentschiedenheit darüber, was aus dem Teilstück Deutschlands werden sollte, je nach Interessenlage Stalins mal "schein"bürgerliches Paradestück, in dem man sich - möglichst unauffällig - seine Figuren aussucht, mal Übergangsrepublik, mal sozialistischer Staat. Was - und das beschreibt er eindrucksvoll - kaum Auswirkungen auf den von Ulbricht persönlich gepflegten Umgangston mit den in Deutschland zurückgebliebenen Genossen gehabt hat. Ein Hinweis auf das von Anfang an favorisierte hierarchisch strukturierte Modell der Partei neuen Typs, das auch in den späten Jahren der DDR eisern beibehalten wurde.
Leonhard beschreibt den Aufstand vom 17. Juni 1953, die Ursachen für den Ungarnaufstand 1956, begründet seine Sympathie für den jugoslawischen Weg, für Solidarnoscs und - später - für Dubc?ek. Dem Leser bleibt überlassen, daraus die Schlüsse für Leonhards "DDR" zu ziehen. Die Frage, ob es in diesem sowjetisch besetzten Teil eine Möglichkeit gegeben hätte, die Weichen anders zu stellen, wird allerdings nur angedeutet. Immer dann, wenn es um Ulbricht und seinen mehr oder weniger ausgeprägten Rückhalt im sowjetischen Politbüro geht. Aber was hätte dazu kommen müssen? Wann?
Die Analysen, die er liefert, lassen keinen Blick auf das zu, was sich der junge Leonhard als DDR hätte vorstellen können. Sicher, er feiert die demokratische Mitbestimmung in den Betrieben à la Jugoslawien, lobt Eigenständigkeit wie im Prager Frühling, findet die Forderungen nach dem Ende der Bevormundung, wie von Solidarnoscs erhoben und dann sogar durchgesetzt, hervorragend, aber das alles sind spätere Entwicklungen. Und sie führten in keine demokratisch sozialistische Gesellschaft. Hatte er, das jüngste Mitglied der Gruppe Ulbricht, einen Entwurf für das Deutschland, das er aufbauen sollte? Konnte einer, der Stalins Säuberungspolitik am Schicksal der Mutter erlebte, ernsthaft an eine repressionsfreie deutsche Republik glauben? Also Irrweg von Anfang an? Ist die Utopie einer gerechten Gesellschaft, die erfolgreich und friedlich agiert, nichts als eine Seifenblase?
Leonhard liefert wenig von dem, was als Zukunftsentwurf gelten könnte. Er merkt nur an, dass die Vorstellungen von damals auf den Erfahrungen der "alten Kämpfer" beruhten, deren Sozialisation im Kapitalismus der freien Konkurrenz erfolgte. Sie waren außerstande, die seit Ende des Zweiten Weltkriegs im System selbst erfolgten Korrekturen wahrzunehmen oder gar zu verarbeiten. Viele von ihnen blieben, bei Honecker beschreibt er es, ein Leben lang fixiert auf die eigenen Jugenderlebnisse! Kleine Trompeter, Tschekisten mit einem bescheidenen Begriff von Wohlstand. Keineswegs harmlos, aber ein wenig sentimental.
Die Gespräche, die Leonhard nach dem Mauerfall mit den ehemaligen Schulfreunden, Lehrern, Gefährten führte, die in der DDR zum Teil in hohen Ämtern agierten, Wolf, Eberlein, Florin, Wandel ... führen ihn zu dem Schluss, dass deren anfängliche Bereitschaft, sich kritisch mit der eigenen Rolle in der Geschichte auseinander zu setzen, nach wenigen Jahren wieder schwindet und alten Positionen Platz macht. Für ihn ein Beweis, dass die Umkehr nur halbherzig stattfand. Es gäbe allerdings auch eine andere Erklärung, dass nämlich der Kapitalismus dabei ist, seine im 20. Jahrhundert vorgenommenen Korrekturen für das 21. zurückzunehmen.
Wolfgang Leonhard: Meine Geschichte der DDR, Rowohlt Berlin, Berlin 2007, 266 S, 19,90 EUR
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