Deine Göttlichkeit soll sich darin beweisen, daß dort, wo du hintrittst, alles gedeihet. Deshalb gebe ich Dir den Namen Proletarier, welches bezeichnet den, der nackt zur Welt kommt und Gedeihen schafft. Und solange deine Hände grob und schwielig bleiben, solange soll dein Herz jung und heiß und Gottes Herz sein." Das ist Nexös Bekenntnis zu einer Göttlichkeit, die weit weg ist vom für die Jahrhundertwende 1899/1900 Üblichen und die sein Leben bestimmen wird. Natürlich lässt der Teufel sich das nicht bieten, er haucht dem Wolf seine Seele ein und von Stund an hat es der Proletarier schwer, die Welt in das Paradies zu verwandeln, das Gott meinte. In Gottes Sohn und Teufels Lieblingskind, einer der zahlreichen Erzählungen des Dänen Martin Anderson Nexö, bestimmt das beginnende 20. Jahrhundert mit seinen neuen Erkenntnissen und ungeheuren Problemen das Geschehen. Ein Autor entdeckt die Schaffenden als tragfähige literarische Figuren. Zum Entsetzen der Verleger. Die lassen sich ja gern einmal eine Erzählung gefallen, aber Nexö legt ihnen das Projekt seines bekanntesten Romans Pelle der Eroberer vor, das einen solchen Menschen in den Mittelpunkt rückt und sie schreien auf: "Das kann man dem Publikum wirklich nicht bieten ... Ein Buch mit einem Proletarier als Helden, und auch noch in vier Bänden."
Das zu Ende gehende 19., das beginnende 20. Jahrhundert mit seiner industriellen Revolution, seinen technischen Entwicklungen, die auf den unterschiedlichsten Gebieten wahre Explosionen auslösten, hatte eine neue Klasse geschaffen. Sie war massenhaft aus den Dörfern mit seinen kleinen Gewerbchen in die Städte geströmt, die Bevölkerung von Kopenhagen hatte sich schlagartig verdreifacht. Sie arbeitete auf gänzlich neue Weise. Lebte auf engstem Raum, war umgeben von ungewöhnlichen Geräuschen. Sie baute die Wunderwerke, die durch die Landschaft ratterten - 1895 fuhren die ersten Autos in Kopenhagen - und schuf Waren gänzlich neuer Art. Die dänische Literatur des ausgehenden 19. Jahrhunderts aber erschöpfte sich im "christlich-idealistischen Biedermeier", wie der Literat und Kritiker Georg Brandes feststellte. Die Kunst feierte ihre eigene Schlappheit und reflektierte sich selbst. Eine Unterklasse gab es in ihr nicht.
Schon kurz nach der Geburt von Martin Andersen in Nexö auf Bornholm entstand eine dänische Sozialdemokratische Partei. Mit ihr wuchs das Bewusstsein vom eigenen Wert eines jedes Menschen und der Wille, mehr als das Objekt gnädiger Wahrnehmung durch engagierte Mitmenschen sein zu wollen. Andersen ist einer aus dieser Unterklasse. Für ihn geht es nicht mehr nur um die Widerspiegelung der Not gedemütigter Arbeiter, er schreibt keine "Jammerliteratur", um einen Ausdruck von heute zu benutzen, ihm geht es um die Wahrnehmung des Potenzials, das da auf allen Gebieten zu wachsen verspricht. Seine Gestalten sind unterdrückt, sicher, aber siegesbewusst. Niemand vor Nexö hat die Welt der Besitzlosen "so ausgemessen und so eindringlich vom blühenden Geist des kleinen Mannes" geschrieben, heißt es in der Biografie von Aldo Keel, die jetzt im Aufbau-Verlag erschien. Sein Hauptwerk Pelle der Eroberer gehört nach einer Umfrage von 1999 bis heute zu den fünf Jahrhundert-Büchern aus Dänemark. Die Verfilmung wurde mit einem Oskar, mit einer Goldenen Palme und mehreren anderen Preisen geehrt. Die Auflagen seiner Bücher erreichten in den zwanziger Jahren Rekordhöhe. Mit billigen Zweitausgaben revolutionierte seine Literatur auch den Markt. Nexö neigt nicht zum schweren, klagenden Ton, seine Sprache ist farbig, breit ausmalend. Die Erzählperspektive vielfältig. Manchmal allerdings tendiert er zu etwas umständlich ausgeführten Details. (Was bei der Übersetzung seiner vierbändigen Erinnerungen durch Steffin/ Brecht zu so erheblichen Auseinandersetzungen führte, das die vier Bände in dieser Form nie erschienen.)
Ein Autor, der vor allem von den Emazipationskämpfen des Proletariats erzählen will, musste auch ein politisch denkender Mensch sein. Und so galt Nexö in Deutschland, wo er vor der Machtübernahme durch die Faschisten zeitweise lebte, schnell als "staatsgefährdender Dichtermann", als unerwünschte Person und Aufwiegler. Was seinen Lebensstil allerdings kaum beeinflusste. Ein "Unkundiger hätte ihn für einen Patriarchen oder Erzbischof gehalten", unkt Halldór Laxness.
Die zum 50. Todestag unter dem Titel Der trotzige Däne erschienene Biografie des Zürcher Skandinavisten Keel versucht, den Autor für die gegenwärtige Diskussion zurückzugewinnen. Sie ordnet Werk und Zeitgeschehen so, dass der Zusammenhang zwischen den sozialen und politischen Kämpfen, den Kriegen und Revolutionen, dem Faschismus, vor allem aber der Sowjetunion und dem, was Martin Andersen Nexö darüber schrieb, erkennbar wird. Der war durch sein vorbehaltloses Engagement für die "kleinen Leute" jedem Versuch aufgeschlossen, ihnen Staatsgewalt anzuvertrauen. Der "Gottesgedanke" schreibt er in seinen Erinnerungen "beginne dort, wo der Mensch anfängt, sich mit Gott die Verantwortung zu teilen". Bange machen kann nicht gelten. Man kann nur beurteilen, was man probiert. Und so erscheinen von ihm emphatische Berichte über die Sowjetunion. Für ihn wie für viele Intellektuelle seiner Zeit entwickelte dieser Staat einen ganz neuen Wertekanon, dem Nexö - bei verschiedenen Besuchen des Landes damit bekannt gemacht - verfällt. Wann hätte es so etwas je gegeben, dass die Upperclass, sein Proletariat, die Geschicke eines Staates in die Hand nimmt? Selbstbewusst agiert! Für ihn ist der Nichtangriffspakt zwischen Hitlerdeutschland und der Sowjetunion ein Akt von Klugheit, die Prozesse, in denen Stalin Gegner und scheinbare Widersacher ausschalten ließ, sind vertretbar, weil sie dem Land die nötige Ruhe zum Gedeihen verschafften.
Zwar befindet er sich auch mit solchen Urteilen in der Gemeinschaft von Barbusse, Laxness, Becher, Feuchtwanger, Romain Rolland und anderen. Aber er kehrt nach dem Krieg nicht nur nach Dänemark zurück - das sich seines Werks längst wieder versicherte -, sondern lässt sich mit dem zweiten deutschen Staat, der DDR, ein. Auf dem weißen Hirsch in Dresden verlebt er als Ehrenbürger der Stadt seine letzten Jahre. Die Nähe zum Kommunismus gilt während des Kalten Krieges als unverzeihlich und so wird aus dem einst gesamtdeutsch geachteten Autor, der die größten Auflagen bei Langen-Müller und der Büchergilde Gutenberg erreichte, in der Bundesrepublik eine fast unbekannte Figur. Emphatisch gelobt auf einer Seite der Elbe, verdammt oder verleugnet auf der anderen. Das erklärt, warum in der DDR Aufgewachsene dem Namen Nexö sofort seine Figuren Ditte, Pelle oder der Lotterieschwede zuordnen, im Westen aber kaum eine Erinnerung besteht.
Der vorliegende Band versucht, dem Autor seine historische Dimension zurück zu geben, ohne seine Irrtümer und vorschnellen Urteile auszusparen. Jenseits von politischen Moden und Vorlieben entsteht so das Bild eines an einem Ideal arbeitenden Autors, der keineswegs so sicher war, wie seine Berichte in Tageszeitungen suggerieren. "In seinem Leben", zitiert Aldo Keel Nexös Erinnerungen, sei er "hunderterlei Wahrheiten" begegnet... "Um die Wahrheit zu finden, gibt es für den einzelnen wohl keinen anderen Weg, als sie zusammenzulügen - zu dichten! -, oder es von anderen besorgen zu lassen."
Aldo Keel Der trotzige Däne - Martin Andersen Nexö - Eine Biografie. Aufbau Taschenbuch-Verlag. 319 S., 9,50 EUR
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