Eine bemerkenswerte Konstellation: Die Enkelin schreibt ein Buch, in dem ausschließlich die Großmutter erzählt. Elisabeth Rother vermittelt ihre Sicht auf ein Jahrhundert, das schlimmste Horrorszenarien in Wirklichkeit verwandelte. Sie ist eine der Betroffenen und weicht dennoch keinen Millimeter von den anerzogenen Normen ab. Sie setzt sie nur zeitweilig außer Kraft. Sie vergöttert Tochter und Enkel und lässt dennoch kein gutes Haar an ihnen. Sie verbringt ihr ganzes Leben als gute Katholikin, und glaubt doch nicht wirklich. Sie beschreibt sich selbst als Antisemitin und heiratet einen konvertierten Juden, dem sie ins Exil folgt. Bürgerlich katholische Rechtschaffenheit in feinster Ausfertigung sieht das Leben als Abenteuer, das zu bewältigen ist. Über das man nicht reflektiert, schon gar nicht klagt, sondern in spannender Form erzählt. Oder aber den Mund hält.
Die Familie des Ehemanns verschwindet aus dem Leben der Emigranten, bis auf einen nach Australien ausgewanderten Bruder überlebt keiner, mehr als eine kurze Nachfrage am Ende des Krieges leistet sich Großmutter nicht. Juden und männliche Wesen kann man lieben, zutrauen darf man ihnen nichts. Schon gar nicht, wenn es um den jüdischen Schwiegersohn geht, der - zugegeben - seine Eigenheiten hat. Im Roman scheint er ein geiziger Versager zu sein. Tatsächlich erhielt er aber den Nobelpreis für Chemie, was bei der erzählenden Großmutter nicht anzukommen scheint und deshalb für die Autorin auch auszusparen war. Großmutter sieht die gut bürgerliche Familie auf dem absteigenden Ast. Denn das Niveau einer Familie wird ihrer Meinung nach von den Frauen bestimmt. Männer sind zu schwach - egal, was sie tun.
Großmama packt aus ist ein Familienroman. Die Werte der zwanziger Jahre bestimmen die Sicht. Das wird nicht einmal dann durchbrochen als die großmütterliche Erzählerin den eigenen Tod beschreibt und die Zeit danach, das Leben und den Tod der Tochter. Der Leser reagiert lächelnd, manchmal voller Unverständnis. Er liest die Geschichte zwangsläufig als reale Geschichte der Familie, zumal Namen und Schauplätze sich entsprechen. Vater Dische ist Dische, Irene Irene, die skizzierten Lebensläufe stimmen überein. Und er liest sie mit Abstand. Die Autorin muss nicht kommentieren, das hat die Zeit getan. Sie relativiert, korrigiert, lässt die Nachgeborenen staunen. Über einen Antisemitismus, der keinen Vernichtungsphantasien Vorschub leistet, weil er von konvertierten Juden selbst kommt, über eine Militärgläubigkeit, die von der Geschichte seit Jahren widerlegt ist, eine großbürgerliche Borniertheit, deren Fundamente längst zerbröselten.
Die ersten Anzeichen des faschistischen Vernichtungsfeldzugs in Deutschland ignoriert die Familie des Dr. Carl Rother mit jenem bei vielen assimilierten Juden ausgeprägten Gefühl von Sicherheit, dass ihnen nichts passieren wird, obwohl die nicht konvertierten Familienmitglieder schon in Lager verschleppt wurden. Erst langsam begreift sie, dass die gesellschaftliche Stellung nur noch dazu reicht, Deutschland mit Glück verlassen zu können. Ihr Wertesystem ignoriert die veränderten Zeiten, die von den Nazis angetragene Scheidung vom Ehemann wird strikt abgelehnt, veränderte Orte werden daraufhin überprüft, wie viel "Normalität" sie bieten. Für sie ist die Welt das, was der Kopf davon hält. Und der meint: Viel Feind, viel Ehr. Und also ist das Leben Liebe und ein großes Abenteuer, vor allem dann, wenn es einen nach Amerika verschlägt. Die Enkelin jedenfalls empfindet ihre Großmutter als beachtliche Frau mit Mut und einer unerschütterlichen Liebe, der man nicht nacheifern kann, die man aber auf irgendeine abenteuerliche Weise übertrumpfen muss, um gleichwertig zu sein.
Der Roman erzählt zu zwei Dritteln vom neuen Leben in Amerika. Deutschland ist scheinbar weit, abgesehen von den Bitten um Weißwäsche derer, die sich nach 1933 nicht schnell genug von der "belasteten Familie" absetzen konnten. Irene Dische, die Autorin, lebt seit den achtziger Jahren wieder in Berlin. Hat sie ein Buch über die Davongekommenen geschrieben? Auch, sicher. Wäre da nicht im Schlussteil ein Satz, der die letzten Worte der Mutter bei ihrem Tod 2001 wiedergibt: "Die Nazis ... sind in mir drin. Hilfe". Die eigenwillige Konstruktion des Romans erweist sich als geschickte Erzähltechnik: So lässt sich die Sprachlosigkeit einer Generation im Zeitraffer aufdecken, ohne zu lamentieren. Denn das Verschlucken von Vergangenheit eröffnet kein System innerer Freiheit. Das aber ist der einzige Garant für eine wirkliche Auseinandersetzung mit der Vergangenheit.
Irene Dische: Großmama packt aus. Aus dem Amerikanischen von Reinhard Kaiser, Hoffmann, Hamburg 2005, 365 S., 23 EUR
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