Wiedergänger und andere Gefahren

Phantomschmerz Die Geschichten in Thomas Harlans "Die Stadt Ys und andere Geschichten vom ewigen Leben" ähneln einem Labyrinth

Das sind keine Geschichten, die man nacherzählen könnte. Zwar haben auch sie einen Anfang und ein Ende, aber sie folgen keiner Story, keinem Faden, sie belegen Haltungen, ordnen Geschichten um Geschehenes, greifen auf oft nicht eindeutig erkennbare Wirklichkeit zu, um sie - bruchstückhaft - einem Ereignis zuzuordnen. Wann und wo gäbe es im wirklichen Leben schon das absolut Eindeutige? Das meiste kommt in vielfältigen Schattierungen daher, ist verzweigt, reicht bis in die Träume, ist ebenso wirklich wie unwirklich, so "murmelnd, stotternd", sich wiederholend, widersprechend - wie Hans Magnus Enzensberger in einer Kommentierung schreibt -, es entzieht sich einfacher Interpretation.

Thomas Harlan, Jahrgang 1929, Sohn des Regisseurs Veit Harlan, der die Propagandafilme der Nazis Jud Süß und Kolberg drehte, steckte als junger Mann die Kinos an, in denen die Filme seines Vaters laufen sollten. Und liebte ihn, wie ein Sohn seinen Vater vielleicht lieben sollte, kraftvoll, aber nicht bewundernd. Denn Zuneigung hätte leicht zu Schuld werden können, wie er in einem Interviewfilm sagt. Ihm war der assoziative Zugang zur Geschichte, in die er eingebunden war, die einzige Möglichkeit der Auseinandersetzung. Nur so konnte er sich ihrer versichern, sie sezieren, den Anteil an Schuld annehmen und zum Ausgangspunkt für eine Erzählkunst machen, in der die einzige Konstante die absolute Hinwendung zur Menschlichkeit ist. Über Zeiten, Ereignisse, Regime hinweg.

Harlans Romane Rosa und Heldenfriedhof wurden von der Kritik in die Nähe von Claude Simon oder Peter Weiss´ Ästhetik des Widerstands gerückt, dem Autor "exorbitante Wortmächtigkeit" bescheinigt und der "Zorn der Besessenheit" in der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und seiner Geschichte, der "jegliche Einfühlung, die uns auch den Massenmörder nur als Menschen zeigen will, verweigert". Tatsache ist: Harlan ist unversöhnlich, aber niemals einschichtig. Die dunklen Seiten im Menschen lassen sich gerne hell umranken. Für jedes Übel, das wir verursachen, haben wir "gute Gründe". Er lässt nichts davon gelten.

Sein neuestes Buch Die Stadt Ys saugt die Tragödien der jüngeren Geschichte in sich ein, dekliniert sie durch, verschränkt sie, findet in ihnen Bestandteile all der Tragödien, die die Menschen in den letzten hundert Jahren anrichteten.- "Wann die Stadt Ys versank, weiß Gott ... Seitdem treffen sich in ihr die Geschichten, die nie erzählt worden waren, alljährlich mit den Geschichten, die erzählt worden waren, und werden erzählt, oder, weil es sie nicht mehr gibt, erfunden", heißt es in einem, dem Buch von Harlan vorangestellten Zitat aus Victor Chlebnikows Reise durch das Kaliningrader Land.

Harlan füllt Die Stadt Ys mit Schicksalen, die in eigenen Erzählungen daherkommen. In ihnen ist die Frage nach wahr oder erfunden so relevant wie die nach dem Huhn und dem Ei. Jede von ihnen seziert den verborgenen stinkenden Schlamm, den Menschen hinterlassen, wenn sie ihresgleichen quälen, verspotten, demütigen, verfolgen, verbergen, ausrotten ebenso wie die Größe, die Drangsalierte in den vielfältigen Formen ihres Duldens, Leidens, Widerstands gewinnen; die fast schon entmutigende Unfähigkeit, aus der Geschichte zu lernen, und daneben, bewundernd, die unendliche Kraft, die Dagegenstemmen immer und immer wieder braucht. In Die Stadt Ys verlässt Harlan festgelegte Zeiten und Räume: Naziverbrechen, stalinistischer Terror, der Völkermord an den Armeniern zu Beginn, die kriegerischen Auseinandersetzungen Anfang der neunziger Jahre um Berg Karabach, der Terror in Tschetschenien am Ende des Jahrhunderts, sie fließen ineinander und auf dem Grund von Ys zusammen, jener versunkenen Stadt, die immer wieder auftaucht, irgendwo, nicht dort, wo sie erwartet wird, irgendwann. Es gibt keinen Ort, keine berechenbaren Intervalle. Im Namen beliebiger Ideologien entfalten Menschen ein Instrumentarium zur Vernichtung von scheinbaren oder wirklichen Feinden, von dem, was sie schufen, dachten, einmal gewesen sind.

In den übernommenen, kaum veränderten Uniformen der eben noch herrschenden Macht, der beide dienten, treffen sie jetzt aufeinander: "Ein gelähmter Haufen, spindeldürr, verwegen trotz, wegen, ja, wegen was. Sie fressen dem Feldimam das Paradies aus der Hand. Auch sie - Ausländer! Inguschen! Tschetschenen! Ägypter! Grausame!". "In Stepanakaert zur Kur verschluckt sich die Generalität an Bergluft. Die Toten stinken woanders", heißt es in Iyob oder Die Geschichte vom armen Genossen Anatol Joganowitsch Kuntse, einer der Geschichten, die in Ys zusammengeführt werden. Der Schlagabtausch zwischen Ebennochbrüdern erstickt an Sinnlosigkeit, aber wie lange? "Etwas siegt immer über Nichts." Ys verschlingt alles, kotzt es irgendwann wieder aus. Das Morden beginnt von vorn.

Thomas Harlan fügt Absurdes, Kluges, Irres ineinander, seine Welt besteht aus Geisterstädten, Wiedergängern, vergeblichen Hoffnungen, Gleichnissen und der Ewigkeit. Seine Prosa hat nichts Belehrendes. Er versteht sich weder als Erzieher, noch als Denklehrer, eher als Chronist all dessen, was Heldensagen auslassen, was Jahrbücher vergessen möchten, was niemand mehr freiwillig erinnert, außer denen, die davon betroffen sind. Das Ausleben mahnenden Phantomschmerzes könnte ein Motiv für diese Erzählform sein, jenes ewigen Schmerzes, der von dem ausgeht, was die Menschheit an Verbrechen in ihrer Geschichte angehäuft hat, was längst eliminiert, abgetrennt, vergessen wäre, wenn es nicht Wünschelrutengänger wie Harlan gäbe, der es erfühlen, aufspüren und ausbreiten würde. In seinen Episoden verbergen sich die ewigen Abgründe, die wir leugnen und in denen wir doch immer wieder suchen, wenn wir uns scheinbarer Übel entledigen wollen. Wie in Das ewige Leben des YKM. Hinter der inszenierten Wirklichkeit als neuem Filmgenre entsteht die Geschichte einer Rettung, die einer Verurteilung gleichkommt. "Otar Abashvili erfand den Mord an seinem Retter und ermordete seinen Retter und fand dabei seinen Tod. Er erfand den Spielfilm Das ewige Leben des Y.K.M. und gab Yaakow Karlowitsch Morgenstern damit sein Leben zurück."

Die Kopien des Seins schieben sich über das wirkliche Geschehen. Und das ist gar nicht verrückt. Jederzeit machbar. Glauben wir nicht alles, was uns halbwegs vernünftig begründet und lange genug vorerzählt wird? Vernunft aber ist kein Ordnungsprinzip in Krisenzeiten. Das hoffen wir nur. Wie lange ist es her, dass ganze Landstriche von den Atlanten verschwunden waren - nirgends katalogisiert. Wie lange ist es her, dass man uns scheinbar unwiderlegbare Beweise auf Satellitenbildern servierte, die es so nicht gegeben hatte, ein Phantomland mit Phantombeweisen taugte für den gegenwärtigen, ganz realen Krieg im Irak. Und am besten: Es fiel zwar auf, konnte aber nicht verhindert werden.

In Thomas Harlans Geschichte Schwanensee fehlt auf den russischen Landkarten die Stadt Wotkinsk, der Geburtsort von Tschaikowski, eine Perle der Baukunst, ein Juwel. Eigentlich ist die Stadt ja zweimal da. Oder auch gar nicht. Kopiert, fünfzig Kilometer entfernt vom ursprünglichen Standort. Unter dem eigentlichen Ort waren die Rüstungsfabriken des Landes verschwunden, nebst zugehörigen Arbeitern und allen Torturen, die möglich werden, wenn niemand kontrolliert. Nachgebauter Schwanensee - Sinnbild von Schönheit, Vollendung, Begehren, Trauer. Wotkinsk, schöner Schein neben tödlichen Abgründen, ist in Die Stadt Ys überall. Nur überhebliche Selbstgerechtigkeit kann das von sich weisen. Menschen leben in den ewigen Abgründen, den alten Phantasien, der gleichen Wut, dem Wahnsinn, den Depressionen und immer wiederkehrenden Träumen.

Harlans Literatur ähnelt einem Labyrinth. Wer seinen Texten auf die Spur kommen will, irrt darin herum. Entdeckt Vieles. Niemals alles. Eine Annäherung an das verborgene Innere - stückweise. Spass macht diese Lektüre nicht, sie ist spannend und eine notwendige Korrektur unserer Leichtigkeit. Sie bewegt sich am Rande ewigen Absturzes.

Thomas Harlan Die Stadt Ys und andere Geschichten vom ewigen Leben. Eichborn, Berlin, Berlin/Frankfurt am Main 2007, 275 Seiten, 19,90 EUR


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