Witwen

Linksbündig Zerfall des Nachfolgerkonstrukts bei Suhrkamp

Hinterbliebene großer Männer oder Frauen trauern nicht nur wie jeder andere, sie adaptieren den Geist der Verstorbenen, sie verwandeln sich in Wesen, die zu einem Teil für den anderen leben. Sie haben, jedenfalls in der eigenen Wahrnehmung, in Frühstücksgesprächen und vor dem Einschlafen auch das miteinander geteilt, was kein noch so genau verfasstes Dokument aufbewahren kann, das Kleingedruckte quasi. Die Bedenken und Eventualitäten, die Möglichkeiten und Gefährdungen, die dem Lebenswerk drohen und in einer Verfügung so gut wie nie umfassend beschrieben werden können, sie kennen sie alle. Das gibt ihnen Rechte. Manchmal schwer zu verstehen für die, deren Nähe aus gemeinsamer Arbeit, intensiver Sachdiskussion entstand und kaum zu akzeptieren. Solche für alle Seiten unerquickliches Gerangel um ein Erbe, auch wenn es nur ideell zu sein scheint, durchzieht die Literatur- und Geistesgeschichte. Ganze Nachlässe verschwanden in unzugänglichen Archiven. In anderen Fällen entstand eine Art Oberwächterinstitution, von der festgelegt wurde, wie verbindlich oder nicht verbindlich die mündlichen und schriftlichen Äußerungen des Verstorbenen zu sehen sind. Jeder mit Literatur Befasste hatte seine Erlebnisse mit den großen Witwen und Witwern. Bemerkungen über Becher, Zweig, Adaptionen zu Brecht. Sie bargen das unwägbare Risiko, von Stund´ an als nicht mehr kompetent zu gelten. Der Familienclan war wachsam. Grenzüberschreitend.

Wer in die Jahre kommt, legt deshalb möglichst genau fest, wie, wenn vorhanden, mit seinem Erbe, auch dem geistigen, umzugehen ist. Eine Garantie für die produktive Fortführung ist das nicht. Allzu leicht lassen sich aus einem Nachlass Museumsmauern zimmern, die zwar bewahren, aber auch töten. Wer nur noch als Zitat benutzt werden kann, als Beispiel für den Umgang mit einem Phänomen seiner Zeit, ist in Gefahr, allein dieser Zeit zugeordnet zu werden. Das spräche für eine große Vergangenheit, für ein große Zukunft ist es noch nicht genug. Es gliche dem Umgang mit einem alten Haus, wunderschön anzusehen, aber ohne modernen Komfort bliebe es unbewohnt und ständig in seiner Substanz gefährdet.

Nun sagt man Büchermachern, wie es Siegfried Unseld einer war, nach, dass sie eine ganz besondere Fähigkeit brauchen, um Talent zu wittern, heraus zu fordern, anzuregen und so zu präsentieren, dass der schließliche Erfolg diese Autoren an den eigenen Verlag bindet. Die Namen der Branchenriesen werden gehaucht. Sie haben Autoren "gemacht", heißt es, nicht profan mit Werbung. Sie haben sie inspiriert, gefördert, Jahre durch Vorschuss unterhalten in Gewissheit ihrer Einmaligkeit und der Wirkung in die geistige Welt. Was wie das Märchen aus einem anderen Jahrhundert klingt, hat mindestens in der Form überdauert, dass noch immer besondere Fähigkeiten bei erfolgreichen Verlegern vermutet werden.

Es schien, als hätte einer dieser "Riesen", Siegfried Unseld, sein Lebenswerk tauglich geschützt der Nachwelt übergeben. Nun ist mit dem Rücktritt der großen Namen aus dem Suhrkamp-Stiftungsrat: Jürgen Habermas, Hans-Magnus Enzensberger, Adolf Muschg, Wolf Singer und Alexander Kluge das scheinbar verlässlich gezimmerte Haus zusammen gebrochen, der Stiftungsrat zurückgetreten. Das sieht nach großem Zerwürfnis aus, ist es aber denn wohl doch nicht, denn alle Mitglieder des Stiftungsrats wollen als Autoren dem Verlag verbunden bleiben. Offiziell reduziert sich der Eklat auf eine Interpretationsfrage: Wer darf wo Entscheidungen mit fällen. Es gebe Missverständnisse, ließ die Verlagsseite verlauten.

Und die gibt es zweifellos. Sie müssen nicht einmal etwas mit dem gespannten Verhältnis zwischen Witwen und Mitarbeitern zu tun haben. Die Veröffentlichungspraxis eines agierenden Verlages ist geknüpft an ein Angebot. Bei noch so guter Nase für das Besondere können sich Geist und Geld sehr schnell im Wege stehen. Unseld hat nicht nur den Stiftungsrat berufen, er selbst hat seiner Frau auch die Mehrheitsanteile übertragen. Vielleicht kannte nicht nur sie seine besonderen Fähigkeiten, sondern auch er die ihren? Die Mischung aus Gediegenheit und leidenschaftlichem Engagement, die der Literatur so gut bekommt, könnte auch dem Suhrkamp-Verlag gut tun. Denn ob der Verlag seinen Ruf wahrt, hängt vom Programm ab, von der Gravitationskraft, mit der die Elite der Literatur zu ihm strebt, erst dann auch vom Personal. Große Schreiber müssen noch keine großen Verleger sein, kleine Frauen bringen ganz eigene Fähigkeiten mit, die Bilanz nach einem Jahr ist das, was zählt.


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